Karriere

«Danke. Punkt.» Cartoon: Silvio Erni

Einen Punkt setzen

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, die 99. und letzte Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Jedes Ding hat seine Zeit. Die richtige zu finden, zählt zu den eleganteren Künsten im Management. Wann soll man etwas tun? Wie lange soll es dauern? Wie häufig macht es Sinn? Wann soll man damit aufhören und einen Punkt setzen? Diese Fragen stellen sich bei jedem Projekt, jeder Massnahme, bei Sitzungen ebenso wie bei der Organisation des eigenen Arbeitsbereichs.

«Einen Punkt setzen» steht hier stellvertretend für die geschickte Gestaltung der Zeit – was natürlich mehr umfasst als bloss rechtzeitig aufzuhören. Zeit ist aber nicht gleich Zeit. Wir können drei verschiedene Zeiten unterscheiden. Man bezeichnet sie fachsprachlich – das wurde in einem früheren Führungsbrief schon einmal erwähnt – als Chronos, Kairos und Kadenz.

  • Chronos ist die Dauer von etwas, gemessen (mittels Chronometer!) etwa in Stunden oder Monaten. Die Faustregel fürs Management würde bei Vielem am besten heissen: Die richtige Chronos ist halb so lang. Sprich: Für eine auf zwei Stunden geplante Sitzung wäre vermutlich eine Stunde gerade richtig – wenn sie dafür gut vorbereitet wäre. Analog lehrt uns die Erfahrung, Projekte zu planen. Wir wissen, wie lange die dauern: doppelt so lang. Kurzum: Die eingangs erwähnte elegante Kunst des Managements in Sachen Chronos hat einen Spielraum von sicherlich 1:4. Viel room for improvement, wie man heute sagen würde.
  • Kairos ist der richtige Zeitpunkt von etwas. Zu messen ist der sehr schlecht, zu spüren oft sehr gut. Rein wahrscheinlichkeitstheoretisch haben Sie viiiel mehr Chancen, den falschen Zeitpunkt zu erwischen als den richtigen. Zumindest unter der Annahme, es gäbe jeweils nur einen richtigen Zeitpunkt. Aber ganz so streng ist Kairos ja nicht. Für ein Lob gegenüber einem Mitarbeiter brauchen Sie nicht besonders lange nach dem richtigen Zeitpunkt zu suchen, für einen Tadel vielleicht schon.
  • Kadenz ist die zeitliche Häufigkeit von etwas: Anzahl pro Chronos, sozusagen. Klassischerweise stellt sich die Frage nach der Kadenz sowohl bei der Ausgestaltung des regulären Führungsrhythmus (Sitzungen, bilaterale Gespräche usw.) wie auch beim «liturgischen» Kalender des Jahres (von der Budgetplanung bis zu den Zielvereinbarungsgesprächen oder den Führungsteam-Retraiten). Bei der Kadenz ist das Zuviel ebenso gängig wie das Zuwenig – nur das als subjektiv empfundene Geraderichtig ist eine seltene und damit kostbare Erfahrung.

Dialektisches Zusammenspiel

Wenn eingangs von Kunst die Rede war, so sollte damit angedeutet werden, dass Handwerk allein nicht genügt, um Chronos, Kairos und Kadenz jeweils «richtig» zu gestalten. Wäre es nur Handwerk, könnte es – im Prinzip wenigstens – jeder lernen. Selbstredend ist es (wie jede Kunst) auch Handwerk, aber eben nicht nur. Handwerkliche Ratgeber hierzu gibt es zuhauf, wir können diesen Teil hier also weglassen. Wie aber steht es mit der Kunst?

Es geht darum, das dialektische Zusammenspiel der folgenden Paare elegant zu meistern:

  • Gewohnheit und Wechsel: Wie immer Sie in einer Sache Chronos, Kairos und Kadenz ausgestaltet haben, es muss eine gewisse Konstanz in der Sache sein, so dass es zur Gewohnheit werden kann. Was gewohnt ist, ist stimmig. Niemand fragt sich, warum Weihnachten schon wieder am 25. Dezember ist. Wenn sich jedoch – aus welchen Gründen auch immer – ein Unbehagen breitmacht, dann ändern Sie die Sache. Verlegen Sie die Führungsteamsitzung von Montag auf Mittwoch, verkürzen Sie die Teamsitzung auf eine Stunde, machen Sie Ihre Bilas (oder heisst das bei Ihnen 1-to-1?) neu nur noch auf expliziten Wunsch. Wichtig ist nicht, wie Sie die Sache ändern, sondern dass Sie sie ändern. Und danach lassen Sie es zu einer neuen Gewohnheit werden. Aber kein ständiger, unvorhergesehener Wechsel ohne Chance auf erneute Gewohnheit, bitteschön – die Farbe eines Neuanstrichs muss wenigstens trocknen können.
  • Achtsamkeit und Fantasie: Damit Sie überhaupt realisieren, dass sich ein Unbehagen breitmacht, müssen Sie achtsam sein. Falls Sie es erst merken, wenn die Stimmung im Keller ist, dann ist der Trick mit dem Wechsel kaum mehr möglich. Wenn der Sitzungsleiter es nicht selbst merkt, dass schon längst keiner mehr bei der Sache ist, ist er der falsche Mann. Jede Sitzung, die eine Viertelstunde früher als geplant beendet wird, gibt allen das Gefühl, ein Ziel erreicht und eine Etappe gewonnen zu haben. Drei Minuten überziehen dagegen reichen für ein Gefühl von Ungeduld und Genervtsein. Die ganzen Sitzungsergebnisse können davon kontaminiert werden. Es braucht ein wenig Fantasie, um die Dinge zeitlich so zu gestalten, dass ein positiver Überraschungseffekt drin steckt. Aber nicht so viel Fantasie, bitteschön, dass das Ganze als gekünsteltes Etepetete oder Theater empfunden wird.
  • Knappheit und Überfluss: Begrenzung von Ressourcen (und somit insbesondere auch von Zeit) vermag mitunter die Fantasie zu beflügeln, Kräfte freizusetzen und zu vermehrter Anstrengung anzuspornen. Aber eben nur mitunter. Der positive Effekt verpufft vor allem dann, wenn Knappheit als frustrierender Dauerzustand erlebt wird: Wir reden zu wenig miteinander, wir haben nie genug Zeit, um die Dinge gründlich genug zu besprechen usw. Sehen Sie es wie beim dinner cancelling: ab und zu praktiziert, führt es zu Wohlbefinden. Als Dauerlösung wärs kein Leben mehr. Umgekehrt gibt es Dinge, die davon profitieren, dass man sie sich im Überfluss gönnt: Musse entwickelt ihre Erholungskraft nur, wenn sie so praktiziert wird, als dürfte sie ewig dauern. Ohne Blick auf die Uhr. Keine Angst, das Bedürfnis nach erneuter Aktivität wird ganz von alleine wiederkommen.
  • Anfang und Ende: Es kommt nicht von ungefähr, dass im Theater der Vorhang aufgeht, wenn das Stück beginnt. Und achten Sie auf den Dirigenten, wie er im Orchester und im Publikum Ruhe erreicht, um dann den ersten Takt zu setzen. Ein klar inszenierter Anfang – von dem auch jeder weiss, dass es nun der Anfang war (und von was) – ist die halbe Miete. Die andere Hälfte ist ein sauberer Abschluss. Klar, ohne Schnörkel, verbindlich. Schluss ist nicht dann, wenn etwas fertig ist – das ist es fast nie. Schluss ist dann, wenn man bewusst einen Punkt setzt.

Einen Punkt zu setzen schliesst die Gestaltung einer zeitlichen Sequenz ab. Es heisst aber nicht nur Schluss machen. Es heisst auch, den Platz und die Möglichkeit für Neues zu schaffen. Dies ist vielleicht sogar ein ganz besonderer Trumpf im Spiel der Führung. So etwas ist Chefsache, und die darf man sich nie aus der Hand nehmen lassen.

Viele Führungsbriefe bleiben ungeschrieben

Man soll seinen Worten ja Taten folgen lassen, und so will ich nun im Führungsbriefeprojekt einen Punkt setzen. Nicht etwa, weil die Themen ausgehen würden, sondern weil ich Ihnen den Schluss der Sache bei Nr. 99 bereits in Nr. 50 angekündigt und fest versprochen habe.

Und so bleiben viele Führungsbriefe ungeschrieben – jener übers Scheitern oder der über Intelligente Ausreden ebenso wie einer über lange Pendenzenlisten mit durchgängiger Priorität 1 und ein anderer über die tückischen Fallstricke jeglicher Führungsliteratur. Und die Liste von hier noch unbehandelten Themen ist noch sehr viel länger – ein Ende gibts nicht, also muss man einen Punkt setzen. Die schöne Zahl 99 ist ein guter Anlass dafür.

Für Ihre Lese- und Mitdenktreue habe ich Ihnen zu danken. Das Briefeschreiben hat 99 Mal sehr viel Spass gemacht. Ich hoffe, das Lesen ebenfalls.

Ich wünsche Ihnen alles Gute. Behalten Sie Ihre Führung im Auge!