Karriere

«Wenn sich mittlere Führungskräfte wie eine undurchlässige Lehmschicht verhalten, ist das primär ein schlechtes Zeichen für die oberen.» Cartoon: Silvio Erni

Lehmschicht?

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Während es in der Tagespresse bekanntlich die Top-Manager sind, die immer wieder massiv kritisiert werden, ist es in der Managementliteratur das mittlere Management, das gerne beschimpft wird. Es sei die Lehm-, Lähm- und Lahmschicht des Unternehmens.

Ist das wirklich so? Und wenn ja, woran liegt das? Von seiner Funktion her sollte das mittlere Management ja vielmehr das starke, gesunde Herz unserer Unternehmen sein. Der Motor, der den Karren am Laufen hält. Klar gibt es auch im mittleren Management Inkompetente, Faulenzer, Wichtigtuer und unangenehme Zeitgenossen. Die vergessen wir jetzt aber mal und konzentrieren uns auf das Gros der Tüchtigen, die gewiss (auch) das mittlere Management mehrheitlich ausmachen. Wenn aus denen tatsächlich eine Lehmschicht wird, läuft etwas schief. Ich glaube nicht, dass wir im mittleren Management einfach eine Häufung schlechter Leute haben – wie sollte denn sonst aus denen erfolgreich das obere und gar oberste Kader rekrutiert werden können? Ich glaube eher, dass etwas am System faul ist.

Im Fokus des mittleren Managements, Sie wissen das aus einem früheren Führungsbrief, stehen die Regeln des Spiels. Die Aufgabe lautet, für handhabbare Prozessdefinitionen und für umsetzbare Ziel- und Leistungsvorgaben zu sorgen. Der individuelle Zuständigkeitsbereich im mittleren Management ist im Normalfall fachlich/geschäftlich/prozessual abgegrenzt – nicht einfach durch eine Anzahl Personen (wie im unteren Kader) oder durch eine Gesamtfunktion (wie im oberen Kader). In diesem Zuständigkeitsgebiet müssen die mittleren Kader jene Vorgehensweisen und Spielregeln festlegen, nach denen gearbeitet werden soll. In diesen Themen sind sie inhaltlich kompetent. Sie wissen, wie der Hase läuft. Man kann sagen, dass sie in der Gesamthierarchie (von unten betrachtet) die letzten sind, die in ihrem Sektor das Geschäft noch bis ins Detail kennen und durchschauen können.

Die Hoheit des mittleren Managements

Als Herrscher und Hüter über die Regeln haben sie einen hohen Handlungsspielraum. Ihr Einfluss ist damit grösser, als ihnen dies manchmal bewusst ist. Sie sind es, die die «Maschine» (wenn wir das Unternehmen auf die Metapher der Mechanik verkürzen) konstruieren, bauen, betreiben und am Laufen halten.

Ohne das mittlere Management geht gar nichts. Paradox ist freilich, dass es im Alltag betrieblich in aller Regel (!) aber nicht wegen, sondern trotz des mittleren Managements ganz gut läuft. Denn erst in den täglichen kleinen Abweichungen von der «reinen Lehre» werden die Regeln wirklich umsetzungspraktisch. Mit dieser «Doppelmoral» muss man leben.

Aber wird dem mittleren Management die genannte Hoheit auch wirklich noch zugestanden? Es ist eine merkwürdige Tendenz festzustellen: Mittleres Management ist heute überall. Will sagen, in immer mehr Bereichen beginnt man sich zu benehmen, als wäre man im mittleren Management. Oberes und
gar das Top-Management lieben es, sich in Dinge einzumischen, die Gegenstand des mittleren Managements sind – es ist halt so schön konkret dort. Wo immer sich den unteren Kadern die Gelegenheit bietet, sich da auch einzumischen, tun sie es – es schmeichelt ihrem Drang nach oben.

Spezialistenbereiche wie die Rechtsabteilung oder die SAP-Spezialisten bei den Finanzen versuchen, die Regelhoheit dem mittleren Management abzutrotzen und unter dem Etikett der Corporate Governance oder der Prozessbeherrschung ihrem eigenen Reich einzuverleiben. Oder HR-Leute, wenn sie versuchen, ureigenste Führungsaufgaben nach der Art und Funktion des mittleren Managements in Tools, Prozesse, Regeln zu verdinglichen – ohne zu merken, dass sie damit der Linienführung auf mittlerer Ebene die Lebenssäfte entziehen.

Kein Wunder also, wenn im echten mittleren Management tatsächlich eine Lehmschicht entsteht. Denn die mittleren Manager sehen sich so mehr und mehr um ihre Kernaufgabe und -zuständigkeit betrogen. Statt dass sie, wie hier gefordert, fachlich begründet Regeln vorgeben, sollen sie fremdgemachte Regeln durchsetzen. Selbst dort, wo sie vor Ort die Dinge besser beurteilen können als die Stäbe in der Zentrale oder ihre Oberen.

Respekt als Bedingung

Zu behaupten, das mittlere Management würde Erneuerungen, Veränderungen, dem Wandel generell widerspenstig gegenüber stehen, ist ungerecht. Denn entsprechende negative Erfahrungen sind meist darauf zurückzuführen, dass das mittlere Management nicht adäquat in die Erfindung dieser Neuerungen eingebunden wurde. Würde man dem mittleren Management nur die Ziele einer Veränderung (und damit ein klares Wozu!) vorgeben, statt ihm immer gleich in die Umsetzung reinzureden oder diese gleich vorzudefinieren, dann würde es flugs die neuen Regeln erfinden und dann ebenso überzeugt durchsetzen wie die bisherigen. Das geht aber nur, wenn die mittleren Manager in ihrem Fachwissen wirklich ernst genommen werden. Dass sich das mittlere Management tatsächlich oft primär aus seiner Vergangenheit legitimiert, ist (wie Softwareentwickler sagen würden) «a feature, not a bug». Wer seine Erfahrungen schmäht, kennt seine Vergangenheit nicht – wie soll er da eine Zukunft haben?

Ich mache die Erfahrung, dass die mittleren Kader als Gruppe vor allem von oben zu wenig Wertschätzung erfahren. Man nimmt ihnen übel, dass/wenn sie nicht begeistert durchsetzen, was ihnen vorgegeben wird. Aber vielleicht ist es eben gerade das, was sie mitunter in die Rolle der «Yes-butter» (statt der wünschenswerteren «Why-notter») bringt. Ich gehe so weit, die Qualität des oberen Managements danach zu beurteilen, ob sie a) wirkliche Fachleute ins mittlere Management gehievt haben und ob sie b) fähig sind, deren Kompetenz auch wirklich fruchtbar für das Unternehmen zu machen. Bedingung dafür ist Respekt. Respekt vor dem Menschen, seiner Erfahrung, seinem Engagement und seinem Sachverstand. Fehlt der Respekt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Sachverstand nur noch für Bremsmanöver missbraucht wird. Das ergibt dann tatsächlich eine Lehmschicht!

Vom Sinn der Sache überzeugt

Ob die mittleren Manager für ihren Sachverstand den nötigen Respekt erhalten, hängt natürlich oft auch von ihnen selbst ab. Man kann nicht direkt von der (Fach-) Hochschule in die Praxis tauchen und dann gleich eine «Hoppla, jetzt komm ich»-Kommunikation starten. Wenn sie sich jedoch nicht selbst kommunikative Barrieren aufbauen, können sie mit modernem Fachwissen und bei gutem Geführtwerden viel bewirken und gestalten. Es wäre unklug, ihre Kompetenz als «theoretisch» abqualifizieren zu wollen. Man sollte sie vielmehr zu nutzen wissen. So eingesetztes und wertgeschätztes mittleres Management ist fürs Unternehmen Gold – nicht Lehm.

Ich will hier aber nicht so tun, als wäre im mittleren Management selbst alles zum Besten bestellt, wenn es nur richtig eingesetzt und wertgeschätzt würde. Froh darüber, als mittlere Manager Führungskräfte unter sich zu haben, also nicht mehr die «gewöhnlichen» Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die gepflegt und gehätschelt, motiviert und gelobt werden wollen, die Aufmerksamkeit erheischen und die man mitunter verknurren, verdonnern, ja dazu prügeln muss, dass sie tun, was sie tun sollten – froh also darüber, vergessen die mittleren Manager gerne, dass sie Führungskräfte sind und führen müssen. Und dann werden sie selbstverschuldet zu der Lehmschicht, die sie gar nicht sein wollen. Denn dann verpassen sie die Chance, sinnstiftend nach unten zu wirken. Umgekehrt wiederum ist zuzugeben, dass keiner nach unten sinnstiftend wirken kann, wenn er vom Sinn der Sache nicht überzeugt ist. Wer weiss, ob die oben beschriebene Tendenz, dem mittleren Management seine Kernaufgabe gedankenlos wegzunehmen, nicht mit daran schuld ist, wenn sich mittlere Manager eher um die Führung drücken.

Sollten Sie nicht zum mittleren Management gehören, dann vergessen Sie nicht, wo das Herz Ihres Unternehmens schlagen muss: im mittleren Management. Beanspruchen Sie dieses Herz, aber respektieren Sie seinen Rhythmus. Umgehen Sie es nicht mit einem Bypass von oben oder aus der Zentrale. Dann wird es Ihnen gute Dienste leisten. Sozusagen ein Leben lang – und Sie werden nicht über eine undurchlässige Lehmschicht klagen müssen.