Karriere
Kritik
Felix Frei«Ich mag Kritik, aber sie muss zu meinen Gunsten ausfallen», meinte Marc Twain. Da haben der grosse Spötter und Sie und ich doch schon mal eine Gemeinsamkeit, nicht wahr? Wir alle mögen es nicht, kritisiert zu werden. Wenn Sie das anders sehen und behaupten, Kritik dem Lob vorzuziehen (weil es Sie weiterbringe und so), dann tue ich Ihnen gerne den Gefallen und kritisiere hiermit in aller Deutlichkeit Ihren Hang, sich selbst zu belügen. Wohl bekomms!
Andererseits ist sicherlich übertrieben, was mein Lieblingsphilosoph Peter Sloterdijk gesagt hat: «Manche Führungskräfte sind wie kostbare Ming-Vasen: ein kritisches Wort, und sie haben einen Sprung.» Häufig anzutreffen ist hingegen die kleine Fassung der Selbstbelügung: Sie akzeptieren jede Kritik, wenn sie konstruktiv ist. Wie soll ich konstruktiv kritisieren, wenn Sie zum Schluss kommen, zwei und zwei gäbe fünf? Soll ich sagen, Sie seien dem wahren Resultat deutlich nähergekommen als meine zweijährige Enkelin? Hier geht es jedoch nicht ums Kritisiert werden, sondern darum, wie wir selbst kritisieren sollten. Es geht auch nicht um Feedback, sondern ausschliesslich um Kritik. Es kann dabei aber hilfreich sein, daran zu denken, wie ungern wir selbst kritisiert werden.
Drei Dinge sind zu beachten: Kritik sollte – wie Sokrates es vor zweieinhalb Tausend Jahren sogar als dreifachen Filter fürs Reden überhaupt forderte – wahr, nützlich und notwendig sein. Wahr Leicht gesagt, nicht immer leicht zu beurteilen. Unbestritten gibt es ungerechtfertigte Kritik. Die verletzt besonders.
Kritisieren Sie konkret!
Aber mit der Wahrheit ist es halt so eine Sache. Reden wir von Ihrer Wahrheit oder von meiner? Perspektiven können bekanntlich sehr unterschiedlich sein. Was durch Fakten belegbar ist, kommt dem Anspruch auf Wahrheit sicherlich näher als reine Behauptungen. Eine Kritik von der Art «Sie sind immer unfreundlich zu unseren Kunden» erfüllt den Anspruch weniger gut als «Ich habe eben gehört, wie Sie mit dem Kunden gesprochen haben; ich empfand das als ausgesprochen unfreundlich.»
Wenn Sie als Führungskraft also Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter kritisieren, dann bemühen Sie sich darum, konkret zu sein. Nicht, um Ihre Kritik durch Auflistung eines «Sündenregisters» zu beweisen, sondern um nachvollziehbar zu machen, wie Sie dazu kommen. Das ist nicht immer leicht, weil man ja nicht alle Vorkommnisse protokolliert (und das auch nicht sollte!). Sie dürfen sich auch gar nicht in die Beweisführungsecke drängen lassen: Wenn Sie in Bezug auf das Verhalten einer Mitarbeiterin oder eines Mitarbeiters ein ungutes Gefühl haben, so ist zumindest dieses Gefühl ein Faktum. Formulieren Sie Kritik einfach so, dass Ihre Kritik möglichst gut nachvollziehbar ist.
Nebenbei: Das alles gilt genau gleich, wenn Sie statt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Ihren Vorgesetzten, Ihre Kollegen oder Ihren Ehepartner kritisieren wollen. Nützlich Hier geht es um Ihre Intention beim Kritisieren: Was wollen Sie damit bewirken? Das eben beschriebene Kriterium der Wahrheit ist beispielsweise nur eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Begründung dafür, jemanden zu kritisieren. Nützlich ist Kritik dann, wenn daraus etwas Besseres entstehen kann. Das ist sicherlich nicht der Fall, wenn Sie die immer gleiche Kritik äussern, ohne dass daraus irgendetwas folgt. Solche Kritik nennt man Nörgeln.
Chance zur Besserung
Ebenfalls unnütz ist Kritik dann, wenn sie eigentlich nur der Absicht dient, den anderen klein zu machen und Sie zu erhöhen. So etwas stellt Ihrer Persönlichkeit ein derart mieses Zeugnis aus, dass es Ihnen grausen wird, wenn man es Ihnen dereinst beim Jüngsten Gericht vorliest. Also verzichten Sie bitte auf die kleine Genugtuung, «es» jemandem einfach mal gesagt zu haben. Ich weiss, Sie machen das nie, das tut nur Ihr Vorgesetzter (beim Schweizer Fernsehen würde man jetzt einblenden «Achtung Satire!»). Vor allem gerne machen es Leute, die ihrerseits über keinerlei Kritikfähigkeit verfügen. Die austeilen, aber nicht einstecken können. Überlegen Sie sich, bevor Sie kritisieren, was die Kritik denn Gutes bewirken sollte. Und fragen Sie sich, ob Ihre Kritik das denn auch wirklich kann.
Gut ist, wenn Sie Massnahmen oder Alternativen vorschlagen (oder gar verlangen) können, die dem Kritisierten eine realistische Chance zur Besserung geben. Auf der anderen Seite ist Kritik aber auch dann unnütz, wenn Sie sie vor lauter Angst vor Verletzung so lange in rosa Watte verpacken, bis der Kritisierte meint, eigentlich soeben für den Nobelpreis vorgeschlagen worden zu sein. Notwendig Kritik ist nicht gleich Kritik. Sie hängt ab vom Setting. Den scheusslichen neuen Hut von Tante Frieda zu kritisieren, ist absolut nicht notwendig, denn es kann Ihnen völlig egal sein, dass hier durchaus noch eine Verbesserung drinläge (womit die Anforderung «nützlich» erfüllt wäre).
Ebenfalls nicht notwendig zu kritisieren sind absehbar einmalige Vorkommnisse, von denen es gar keine verbesserte zweite Auflage mehr geben wird. Unbestritten notwendig ist Kritik hingegen in allen Lern-Settings – denn da kann sie zukunftsweisend sein. Und da ist sie auch am unproblematischsten. Das weiss jeder, der etwas lernen will und von seinem Meister oder Lehrer fachlich begründet kritisiert wird. Zu beachten ist auch da immer noch die Form und der Tonfall – die nicht herabsetzend sein sollen – und der geeignete Zeitpunkt. Der wäre im obigen Beispiel etwa erst dann, wenn der Kunde wieder weg ist und nicht in seiner Gegenwart.
Lern-Settings
Lern-Settings gibt es aber nicht nur in der Schule oder in Kursen und Seminaren. Auch der normale Arbeitsalltag kann als Lern-Setting gelten, wenn er denn von allen als das begriffen wird. Das macht deutlich, dass das Gesagte nicht nur für individuelle Lern-Settings gilt, sondern gerade auch dann, wenn sich eine Organisation zum Ziel gesetzt hat, die gemeinsame Leistung zu verbessern.
In diesem Fall ist eine periodische Kritik – Neudeutsch: eine After Action Review – geradezu Pflicht. Und zwar nicht nur vom Chef an den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sondern als gegenseitige Kritik aller an allen. Sine ira et studio – ohne Zorn und Eifer also, aber im gemeinsamen Bemühen, die Dinge zu verbessern. Hilfreich ist, wenn wechselseitige Kritik eingebettet ist in eine allgemeine Feedback-Kultur, in der auch Positives zurückgemeldet und nicht bloss das Negative kritisiert wird. Das sollten sich gerade auch die «Unteren» hinter die Ohren schreiben, denn sie neigen besonders dazu, nur Negatives nach «oben“ zu melden, weil sie das Positive einfach als selbstverständlich betrachten. Oder sie melden nicht einmal das, wenn sie Angst vor Retourkutschen haben. Oder wenn sie daran zweifeln, dass sich «oben» überhaupt jemand bessern will – immerhin hat ein berühmter Sozialforscher einst definiert, Macht bedeute, nicht lernen zu müssen!
Wahre, nützliche und notwendige Kritik gedeiht am fruchtbarsten auf dem Boden robuster persönlicher Beziehungen. Wenn ich weiss, dass ich grundsätzlich akzeptiert und geschätzt werde, dann lasse ich mich in einzelnen Dingen leichter kritisieren, als wenn ich mich jedes Mal als Person in Frage gestellt fühle. Nur so kann ich die nötige Kritikfähigkeit entwickeln, ohne die ich aus Kritik ohnehin nichts lernen werde.
Gift ist, wenn Vorgesetzte ihre generelle Meinung über ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter täglich ändern. Ein solches permanentes Auf und Ab der Beurteilung verunsichert ungemein und zerstört jede fruchtbare Feedback- und Lern-Kultur. Robuste Beziehungen wachsen auf der wiederholten Erfahrung, dass man sich durchaus streiten kann und dass auch (begründeter) Widerstand gegen oben möglich ist und ernst genommen wird. Statt eines jährlichen 360°-Feedbacks brauchen wir eher ein 365-Feedback – also eine tägliche, gegenseitig kritisch wohlwollende Art der zwischenmenschlichen Kommunikation auf und zwischen allen Ebenen. «Kritisch wohlwollend» könnte man nun durchaus mit «konstruktiv» umschreiben. Das freilich ist ausschliesslich ein Anspruch, den ein Kritiker sinnvollerweise an sich selbst richtet. Nicht ein Vorbehalt, der dem Kritisierten zustünde.