Karriere
Führung von unten
Felix FreiEs ist ja nicht so, dass man als Führungskraft seinem Vorgesetzten respektive dessen Führung einfach nur ausgeliefert ist. Man hat als Geführter durchaus Einfluss darauf, wie man geführt wird. Leider wird das in der herkömmlichen Führungsentwicklung kaum je geschult. Einzig wer einen Coach hat, dürfte in dieser Hinsicht gezielt Unterstützung bekommen.
Viele Führungskräfte gefallen sich daher in der Rolle des «Opfers» und sehen ihren eigenen Anteil an der Führungsbeziehung nach oben nicht. Lassen Sie uns für einmal das Augenmerk ausschliesslich auf diesen Anteil richten. Hier ist das Dienstreglement für einen erfolgreichen Umgang mit Ihrem Chef:
§1
Stellen Sie sich auf Ihren Chef ein, so wie er ist. Nicht auf Ihr Traumbild von einem Chef. Auch nicht auf das, was er gemäss Lehrbuch sein oder tun sollte. Machen Sie sich ein möglichst unvoreingenommenes Bild davon, wie Ihr Chef ist: Seien Sie offen dafür, dass er (oder sie; ich lasse diese Präzisierung im Folgenden weg) heute vielleicht anders ist, als sie ihn bis gestern erlebt haben. Er müsste von Ihnen mindestens die Chance bekommen, sich auch ändern zu können.
§2
Bauen Sie Ihr Bild auf drei Säulen auf: Die erste ist sein faktisches Tun. Streng nach dem biblischen Grundsatz «An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen». Die zweite bildet seine Absichten. Die müssen zwar keineswegs seinen Wirkungen entsprechen, aber es macht ja doch einen Unterschied, ob jemand zum Beispiel willentlich verletzt oder bloss aus Ungeschicklichkeit. Die dritte Säule liegt in den Augen Dritter: Wie sehen Ihre (oder seine) Kollegen ihn? Wie sieht ihn sein Chef? – Entscheidend ist, dass Sie sich ganz unaufgeregt damit auseinandersetzen, dass diese Säulen widersprüchlich sein können. Führungskräfte sind Menschen und nicht Lehrbücher für Logik, die ohne Widersprüche auskommen möchten. Das gilt auch für Ihren Chef.
§3
Akzeptieren Sie, dass Sie Teil des «Werkzeugkoffers» Ihres Chefs sind. Er braucht Sie, um seine Aufgabe erfolgreich bewältigen zu können. Führung ist keine Liebes-, sondern eine instrumentelle Beziehung. Machen Sie sich also klar, was – in seinen Augen! – seine Aufgabe ist, und fragen Sie sich, welches Werkzeug Sie für ihn darstellen können und wollen.
§4
Streichen Sie auf der Liste Ihrer Erwartungen an ihn ein für allemal den Punkt, wonach Ihr Chef für Ihr Wohlbefinden zuständig ist. Er ist es nicht. Zwar ist er gut beraten, wenn er sich dafür interessiert, aber dieser Teil der Sache steht hier und jetzt nicht zur Debatte.
§5
Ob Ihr Chef auf Ihre Erwartungen an ihn eingeht, hängt nicht zuletzt davon ab, ob er überhaupt weiss, was Ihnen wichtig wäre. Es ist, sorry, wie beim Sex: Besser, Ihr Partner weiss, was Sie mögen und was nicht; darauf zu hoffen, dass er das «spürt» (sprich: richtig errät), geht allzu oft schief. Diesen Punkt werden Sie freilich nur dann berücksichtigen, wenn Sie wirklich wollen, dass die Dinge besser werden. Nicht wenn Sie es bevorzugen, recht darin zu behalten, wie schlecht Ihr Chef führt...
§6
Ohne Ihren Chef zu kennen, kann ich Ihnen verraten, dass er keine Überraschungen liebt. Da es ihm aber nie möglich sein wird, alles zu wissen, was in seinem Bereich läuft, sind Überraschungen insgesamt unvermeidlich. Das Beste, was Sie tun können, ist, ihn vor unliebsamen Überraschungen zu bewahren. Informieren Sie ihn proaktiv. Keineswegs möglichst umfassend, sondern so, dass es ihm seine Arbeit erleichtert. Dabei geht es darum, ihm good feelings zu vermitteln. Achtung: Das heisst nicht, die Dinge zu beschönigen. Sondern ihm rechtzeitig die Gelegenheit zu geben, einen Regenschirm einzupacken – noch bevor er in den Wolkenbruch gerät. Tun Sie das, ohne sich selbst zu beschuldigen, denn das bliebe an Ihnen hängen.
§7
Hüten Sie sich davor, selbst möglichst gut dastehen zu wollen. Wenn Sie über Probleme reden müssen, ist es besser, die Dinge beim Namen zu nennen. Verpacken Sie sie nicht in rosa Watte, das führt eher zu Misstrauen seitens Ihres Chefs. Dann wird er tiefergraben wollen, als Ihnen lieb ist.
Allerdings dürfen Sie sich nicht darauf beschränken, Probleme zu benennen und Ihren Chef erwartungsfroh mit einem Blick anzusehen, der besagt: «Bitte schaffe mir die Probleme vom Leib, lieber Chef!» Er darf nämlich von Ihnen erwarten, dass Sie sich selbst schon mögliche Lösungen überlegt haben. Am besten fühlt er sich, wenn er anhand Ihrer Lösungsideen seine Präferenzen verdeutlichen kann. Entsprechend sollten Sie sie geschickterweise aufbereitet haben. Ihr Chef sollte Sie jederzeit als part of the solution, nicht als part of the problem erleben, wie das heutzutage so schön heisst. Für Sie bedeutet das: Bereiten Sie sich gut auf Ihre Besprechungen mit Ihrem Chef vor! Und berücksichtigen Sie dabei, wie er tickt: Ist er ein «Hörer», dann verschonen Sie ihn mit Papieren; ist er ein «Leser», dann quasseln Sie ihn nicht voll, sondern versorgen Sie ihn vorab mit Unterlagen; ist er ein Detailliebhaber, dann seien Sie genau; ist er ein One-Pager-Manager, dann kommen Sie auf den Punkt.
§8
Das richtige Timing zu erwischen, das ist die hohe Schule des Führens von unten. Man sollte den Chef nicht im allerdümmsten Moment mit seinen Anliegen überfallen. Als Sie noch ein Kind waren, haben Sie das vermutlich im Umgang mit Ihren Eltern beherrscht. Aber da wussten Sie auch noch, dass es nur darauf ankommt, die neuen Fußballschuhe schlussendlich wirklich zu bekommen. Sie waren noch nicht dem Sachlichkeitsfetischismus verfallen, der meint, recht zu haben sei das Wichtigste. Sie müssen lernen, Ihren Chef zu gewinnen, nicht zu überzeugen. Wer gewonnen wird, fühlt sich gut. Wer argumentativ von seiner Meinung abgebracht wird, fühlt sich unter Umständen an die Wand gespielt. Wenn Ihnen das zu mikropolitisch klingt: bitte schön. Ich bin es nicht, der die neuen Fussballschuhe will.
§9
Sie haben selbstredend mehr Chancen, von Ihrem Chef das zu bekommen, was Sie wollen, wenn Sie selbst Ihre Hausaufgaben gemacht haben. Wenn Sie in Ihrem Job einfach gut sind. Aber nicht, wenn Sie Ihre Qualitäten auf eine Art herausputzen, die besagt, dass Sie selbst eigentlich der bessere Chef wären als Ihr Chef. Auch wenn Sie das vielleicht sind. Sie hören es bestimmt nicht gerne, aber es ist wenig weise, das Ego Ihres Vorgesetzten zu untergraben. Er ist genauso anerkennungsbedürftig wie Sie, und er wird genauso wenig gelobt wie Sie. Gestehen Sie ihm sein Ego zu. Sie brauchen hierfür kein Schleimer zu sein. Normaler Respekt und echte Anerkennung wirken Wunder.
§10
Lassen Sie sich gleichzeitig nicht alles gefallen. Sie dürfen sich abgrenzen, sie müssen das sogar, wenn Ihr Chef ungerechtfertigte Anforderungen an Sie stellt. Aber die Abgrenzung soll souverän wirken und weder gekränkt noch weinerlich noch erbost daherkommen. Nur wenn Ihr Chef dabei sein Gesicht nicht verlieren muss, kann er vernünftig auf Ihre Abgrenzung reagieren.
§11
Analoges gilt für Ihre Erwartungen an Ihren Chef. Wenn Sie etwas wirklich wollen, müssen Sie dafür einstehen. Man kann nicht bloss eine Karte an den Weihnachtsmann abschicken und dann hoffen. Kämpfen ist manchmal auch Teil des Führens von unten. Doch müssen Sie es schaffen, zu gewinnen, ohne Ihren Chef als Verlierer dastehen zu lassen. Gönnen Sie es ihm, wenn er das schlussendlich für seine Idee hält, was Sie ihm unbedingt abtrotzen wollten.
Gelingen wird dies alles nur dann, wenn Sie in Ihrem Innersten wirklich anerkennen, dass Sie immer auch mit dafür verantwortlich sind, wie Ihr Chef Sie führt. Wenn Sie darauf verzichten, immer auf seinen ersten Schritt zu warten. Und wenn Sie die hier beschriebenen Dinge als ganz normalen Teil einer Führungsbeziehung akzeptieren – ohne Moralin, ohne Resignation und ohne die Auffassung, «eigentlich» dürfte das alles nicht so sein. Das ist der schwierigste Teil! Wer weiss: Vielleicht profitieren Sie ja umgekehrt davon, wenn auch Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diesen Führungsbrief gelesen, verstanden und umgesetzt haben.