Karriere

«Der pädagogische Wahn der letzten Jahre führte zu einer Überschätzung der Lernfähigkeit. So verkennen wir die Schwierigkeiten des Lernens.» Cartoon: Silvio Erni

Lernen

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Ich fürchte, dieser Führungsbrief wird Ihnen nicht gefallen. Und wenn Sie dem, was ich im Folgenden sage, dennoch zustimmen, dann womöglich nur auf alle anderen bezogen – nicht auf Sie. Doch der Reihe nach: Lernen, so sagt man uns allenthalben, ist ungeheuer wichtig. Lernen tun wir täglich. Vor allem aus Fehlern (und falls doch nicht, gibts beim nächsten Mal Ärger – etwa mit unserem Chef). Wir alle lernen sehr gerne und sind auch jederzeit bereit dazu. Lernen können wir bis ins hohe Alter – mehr noch: nur ständiges Lernen ermöglicht uns Fitness bis ins hohe Alter.

Und vor allem beruflich gilt: Wer rastet, rostet; also halten wir uns stets auf dem neuesten Stand des Wissens. Leider, ich bekenne es, ist meine Erfahrung eine völlig andere: Die Lernfähigkeit ist und wird begrenzt, die Lernbereitschaft existiert nur sehr selektiv, und viele Lernerwartungen sind substanziell fehl am Platz.

Lernfähigkeit

Selbstredend hat der Mensch eine – im Prinzip – lebenslange Lernfähigkeit. Doch lernt er nicht einfach so. Wenn immer er mit Neuem konfrontiert wird, versucht er es geistig ins Bekannte einzuordnen. Erst wenn sich etwas wirklich gar nicht mehr in die gewohnten geistigen Schubladen einzwängen lässt, eröffnet er (oft leidvoll) eine neue – und lernt also. Wer das Lernen nicht geradezu begierig sucht, kommt prima drum herum. Die häufigste Reaktion auf meine Vorträge oder Führungsbriefe oder Seminare ist: «Das hat mir sehr gefallen, es hat mich völlig darin bestätigt, dass ...». Und dann folgt nicht selten etwas, das ich so definitiv weder gesagt/geschrieben noch gemeint habe. Die Kraft, die Dinge so für sich zurechtzubiegen, dass man eben gerade nicht lernen muss, ist beeindruckend. Kein Wunder, dass das Feedback fast nie lautet: «Das habe ich noch nie so gesehen, es verwirrt mich, ich werde versuchen, das auch mal so wie Sie anzuschauen; bin gespannt, ob es mich weiterbringt.»

Unzweifelhaft ist die Lernfähigkeit überall dort aber gross, wo erstens die Lernbereitschaft auch gross ist und es zweitens um etwas geht, das man wirklich lernen kann (Charisma zum Beispiel kann man nicht «lernen»). Auf diese zwei Aspekte gehe ich in Kürze ein.

Zunächst aber Folgendes: Ein wichtiger Grund, warum wir weniger lernen, als unserem Selbstbild lieb wäre, ist, dass die menschliche Psyche sehr erfolgreich mit festen Mustern arbeitet – um den Preis freilich, dass wir auch dann in die hergebrachten Muster verfallen, wenn wir es besser nicht sollten. Das Immer-wieder-dem-selben-Muster-folgen kennzeichnet nicht nur so manche Schwierigkeit in Liebesbeziehungen, sondern ebenso in Führungsbeziehungen. In der Führungsentwicklung kommt es denn auch immer wieder zu dem Punkt, wo eine Führungskraft sagt: «Ich bin eben, wie ich bin.» Als Authentizität verbrämte Lernunfähigkeit oder aber mangelnde Lernbereitschaft, so muss man hier diagnostizieren. Oder feststellen, dass Lernen oft erst auf Verlernen folgt.

Lernbereitschaft

Selbstredend hat mir noch nie jemand gesagt, er oder sie sei nicht lernbereit. Das Gegenteil ist der Fall. Aber allzu oft sind das nur leere Beteuerungen, die am ehesten noch von der Person geglaubt werden, die sie äussert. Wirklich lernbereit sind wir immer da, wo wir etwas neu können/beherrschen möchten – und es nicht gegen unser Selbstwertgefühl geht, dass wir es heute also noch nicht oder nicht gut genug können. Wenn Sie fliegen können oder Chinesisch beherrschen wollen, dann werden Sie auch bereit sein, es zu lernen. Es kann dann zwar am Aufwand oder an Ihrem Talent scheitern, aber Ihre Bereitschaft wäre nicht das Problem. Ganz anders, wenn es sich nicht um etwas für Sie Erstrebenswertes handelt (sondern um den Druck Ihrer Chefs oder die Erwartungen Ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder um die Mahnung eines Führungstrainers). Dann wird es mit Ihrer Lernbereitschaft nicht sehr weit her sein – obwohl Ihre Lernfähigkeit durchaus gegeben wäre.

Das vielleicht wichtigste Hemmnis für unsere Lernbereitschaft (nebst Bequemlichkeit, natürlich) ist jedoch die implizite Bedrohung unseres Selbstwertgefühls: Wo noch Potenzial zum Lernen ist, ist die Leistung noch nicht maximal. Wenn ich mich also bereits für den Máximo Líder halte, werde ich nicht wirklich dazulernen wollen.

Dazu kommt noch als weitere mögliche Beeinträchtigung unserer Lernbereitschaft die Angst zu scheitern, es trotz Anstrengung hinterher doch nicht besser zu beherrschen – und davor dann die Augen nicht verschliessen zu können. Die Ist-Situation sind wir uns wenigstens gewöhnt, ob eine Veränderung wirklich eine Verbesserung wäre (und nicht bloss Verunsicherung zur Folge hätte, beispielsweise), bleibt riskant. Hier liegen auch die Gründe dafür, warum so viele Menschen, wenn sie um «konstruktives» Feedback bitten, nur Bestätigung, wenn nicht gar Lob suchen.

Lernerwartungen

Im Führungsbereich liegt eine der grössten Barrieren für erfolgreiches Lernen aber in unzulässigen Lernerwartungen: Man fordert Lernen ein für etwas, das gar keine Fertigkeit darstellt. Sie können nicht Schönheit lernen – aber Sie können lernen, sich besser zu schminken oder zu frisieren. Sie können nicht Zufriedenheit lernen – aber Sie können lernen, besser auf Ihre Bedürfnisse zu achten. Sie können nicht Musikalität lernen – aber Sie können lernen, Noten zu lesen. Und natürlich können Sie sich über alles und jedes in der Welt Wissen aneignen – aber das führt noch nicht zwingend zu Können/Fähigkeit/Kompetenz (die Begriffe sind hier leider etwas unscharf).

In der Führungsentwicklung wird hier besonders viel gesündigt. Man erwartet von Ihnen eine Verbesserung Ihrer Führung, als wäre es eine von Ihnen allein einzubringende Fertigkeit. Dass Führung ein Beziehungsgeschehen ist, wird dabei ignoriert. Und Sie selbst spielen das Spiel mit: Sie halten Ihre Führung für Ihre Leistung, als ob kein anderer daran beteiligt wäre. Und so konfrontiert man Sie und Sie sich selbst mit Lernerwartungen, die der Sache gar nicht gerecht werden.

Der Teufelskreis setzt danach ein: Selbst wenn Sie Ihre Fertigkeiten (solche gibt es natürlich auch in der Führung) verbessert haben, wollen Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre eigenen Muster aufrechterhalten, und sie werden Ihre neu gelernten Fertigkeiten so lange ignorieren, bis auch Sie wieder ins alte Muster zurückfallen. It ain’t easy, möchte man da singen.

Ich bin weit davon entfernt, Ihnen mit all dem das Lernen als etwas ohnehin Unmögliches oder Hoffnungsloses ausreden zu wollen. Im Gegenteil: Ich setze voll aufs Lernen (vielleicht mitunter gar bis hart an die Grenzen des pädagogischen Wahns, würden manche sagen). Aber man kann nur auf Lernen setzen, wenn man die Klippen kennt, die den Lernerfolg gefährden. Wenn man sich keinen Illusionen hingibt bezüglich der eigenen Fähigkeiten, der eigenen Bereitschaft und der konkreten Erwartungen, die man mit seinen Lernzielen verfolgt.

Der erste Schritt hierfür besteht darin, nicht so grenzenlos naiv übers Lernen zu denken, wie es der Zeitgeist tut, den ich im ersten Abschnitt zusammengefasst habe. Man muss sich ja nicht gerade auf Blut, Schweiss und Tränen einstellen – aber ein Sonntagspaziergang ist es eben auch nie, wenn man wirklich weiterkommen und tatsächlich dazulernen will.

Zum Glück ist bekannt, dass gerade auch anstrengende Touren mitunter mit herrlicher Weitsicht belohnt werden.