Karriere

«Vermutlich war das Erste, was Adam Eva erzählte, ein Gerücht. Was dem Affen das Lausen, sind dem Menschen die Gerüchte. Sie binden uns.» Cartoon: Silvio Erni

Gerüchte

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Ich weiss, Sie erzählen keine Gerüchte. Sie nicht. Damit sind wir zwei allerdings allein auf weiter Flur. Und so lohnt es sich nicht, diesen exotischen Fall hier weiter zu vertiefen. Andere Menschen hingegen erzählen Gerüchte. Damit wollen wir uns nun befassen. In jedem – jedem! – Betrieb, in dem ich als Berater zu tun habe, sagt mir jemand früher oder später: «Wissen Sie, das ist eine Schwatzbude hier. Alle wissen immer alles. Nichts lässt sich geheim halten.» Ich finde, das ist a) vermutlich immer wahr und b) auch ganz okay so.

Natürlich führt der offizielle Moralin-Kodex in sämtlichen Unternehmen (und darüber hinaus) das Gerüchte-Verbreiten auf der Liste der ganz üblen Sünden. Und noch nie ist mir ein Mensch begegnet, der sich selbst dieser Sünde bezichtigt hätte. Damit würde er sich zu sehr ins soziale Offside stellen. Aber es ist mir auch noch nie ein Mensch begegnet, der auf die Einleitung «Wussten Sie schon, dass Meyer, dieser..., jetzt angeblich...» nicht mehr zugehört hätte. Meist merkt man schon bei der Einleitung an der ganzen Tonalität, dass nun gleich ein Gerücht folgt, das selbstredend nie als Gerücht etikettiert wird, aber dennoch zweifelsfrei als «on-dit» erkennbar ist.

Was dem Affen das Lausen, sind dem Menschen die Gerüchte: Es ist das Medium der Festigung sozialer Netzwerke. Indem man ein Gerücht weitererzählt (der eigentliche Erfinder verliert sich ja meist im Dunkeln), zeigt man sich interessiert, befriedigt man seine Neugier, erweist man sich als informiert, erntet man Aufmerksamkeit, baut man seine Macht aus, nimmt man Einfluss, erfährt man umgehend Neues und hat man Spass. Daran ist so viel attraktiv, dass man sich nicht wundern muss, dass es zuoberst auf der Sündenliste steht. Das ist ja auch beim Essen und sonst noch bei ein paar Dingen so.

Schwatztanten allenthalben

Ich wage die Behauptung: Wer nie ein Gerücht erzählt, wird sozial isoliert, ausgeschlossen, abgehängt. Das kann man nicht im Ernst von jemandem verlangen. Hören Sie also bitte auf, eine entsprechende Forderung in Ihre Führungsgrundsätze, Wertekataloge und Unternehmenskulturparagrafen hineinzuschreiben. Es wäre scheinheilig.

Zugegeben, man kann Gerüchte «schlimmer» und «weniger schlimm» erzählen. Weniger schlimm ist natürlich besser: Dazu gehört, dass man wo möglich sagt, woher man das Gerücht hat, und dass man wie bei der Lebensmitteldeklarationspflicht dazu sagt, wie sicher oder unsicher, wie belegt oder nur vermutet die Sache sei. Freilich kann man auch auf diesem Weg äusserst scheinheilig sein: «Ich will ja nichts gesagt haben, aber ...»

Wer ein «schlimmer» Gerüchteerzähler ist, verkauft lauter unbewiesene Dinge als nackte Tatsachen, schmückt sie da und dort noch aus, weiss genau, wem er damit wie eins reindrückt und freut sich diebisch daran. Was er meist übersieht, ist, dass er zwar häufig Aufmerksamkeit, aber gleichzeitig viel Verachtung erntet. Die anderen hören der üblen Rede noch so gerne zu, denn sie erfahren nicht nur Interessantes, sondern haben danach auch noch Grund, schlecht über den Gerüchteerzähler zu reden. Schwatztanten allenthalben!

Was Sie nicht sagen!

Viel relevanter als der Aspekt des Gerüchteerzählens ist das Problem des Gerüchtehörens. Was machen Sie mit dem, was Sie in der Gerüchteküche hören (ausser weitererzählen, natürlich)?

Hier trennt sich die Spreu vom Weizen. Hier erweist sich, wer sozial kompetent und mikropolitisch gewaschen ist. Ein absolutes No-Go ist selbstverständlich, alles, was man gerüchtehalber hört, einfach zu glauben und für bare Münze zu nehmen. Das wäre naiv. Nachfragen, um den Wahrheitsgehalt zumindest ansatzweise einschätzen zu können, sind oft nützlich, brauchen aber Geschick: Man darf ja nicht zwischen den Zeilen dieser Nachfragen dem Gerüchteüberbringer mitteilen: «Dir glaube ich eigentlich kein Wort.» Das könnte die soziale Bindung schädigen, statt sie – wie das Lausen bei den Affen – zu kräftigen.

Beliebt ist, das Gerücht mit einem interessierten – aber nicht zu interessierten! – «Was Sie nicht sagen!» entgegenzunehmen und es dann baldmöglichst bei konjunktivischem Weitererzählen an Dritte zu testen: «Stimmt es eigentlich, dass...?» Wer bloss fragt, macht sich scheinbar nicht schuldig. Die meisten Menschen sehen das ja nicht so streng wie der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, der Journalistenfragen, die mehr unterstellten als wirklich fragten, mit der Bemerkung abzuschmettern pflegte: «Das ist eine Frage vom Typus ‚Stimmt es, dass Sie seit gestern Ihre Frau nicht mehr schlagen – ja oder nein?‘»

In der Champions League in Sachen Umgang mit vernommenen Gerüchten geht man direkt zum Betroffenen und konfrontiert ihn mit dem Gehörten. Das aber muss gekonnt sein, denn es birgt mehrere Risiken:

  • Sie setzen sich damit der Gefahr aus, selbst der Erfindung des Gerüchts oder zumindest seiner Proliferation bezichtigt zu werden.
  • Sie riskieren, dass der Angesprochene von Ihnen enttäuscht ist, da er Sie ja verdächtigen muss, das Absurde überhaupt für möglich zu halten: «Traut der mir das wirklich zu?»
  • Sie gefährden das letzte Glied in der Gerüchtekette, dasjenige gerade vor Ihnen, denn Sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit aufdecken müssen, von wem Sie diesen Unsinn gehört haben.
  • Sie wissen nicht von vornherein, was der mit dem Gerücht konfrontierte Betroffene danach tut. Das heisst, Sie riskieren womöglich einen Flächenbrand sozialer Konflikte, den Sie nicht mehr löschen können.

Kein Wunder also, wenn Sie dann doch davor zurückschrecken, direkt zum Betroffenen zu gehen.

Soziales Phänomen

Vielleicht sollte man das Ganze sehr viel lockerer sehen: Erstens, Gerüchte gehören zum Menschen. Zweitens, jede/r erzählt und vernimmt Gerüchte. Drittens, man sollte beim (aktiven, aber auch passiven) Umgang mit Gerüchten nicht nur bedenken, wem man möglicherweise schadet, sondern auch, was dabei auf einen selbst zurückfallen könnte.

Der dritte Punkt ist der entscheidende. Es geht hier nicht nur um Wahrheit oder Ethik oder Anstand und ähnliche edle Werte. Es geht um die harte Währung sozialer Geltung: Als was oder wer stehen Sie da, wenn Sie dies oder jenes in die Welt setzen, weiterverbreiten oder ungeprüft glauben? In dieser Währung sollten Sie Ihren Umgang mit Gerüchten bilanzieren. Und natürlich haben Sie als Führungskraft die Aufgabe, ein Gerücht über etwas oder jemanden in Ihrem Zuständigkeitsbereich substanziell abzuklären. Es kann ja sein, dass es (zumindest teilweise) wahr ist und von Ihnen eine Reaktion oder Intervention erfordert. Aber in dem Moment ist es für Sie zumindest eine handlungsrelevante Information und kein Gerücht mehr.

Das universelle und unvermeidliche soziale Phänomen der Gerüchteküchen lehrt uns aber auch noch etwas ganz anderes: Versuchen Sie niemals, etwas als so geheim zu behandeln, dass es unter keinen Umständen auskommen – sprich in der Zeitung stehen – dürfte. Ich verspreche Ihnen: Es kommt sowieso aus. Zuerst als Gerücht. Offen ist dann nur noch, ob es schon morgen oder erst nächste Woche in der Zeitung steht. Das ist das Schöne an den Gerüchten: Sie geben Ihnen eine Vorlauffrist. Sobald sie – bezüglich Ihres «Geheimprojekts» – in Umlauf kommen (und das ist unvermeidlich), wissen Sie, dass nun allerhöchste Zeit für aktive und offensive Kommunikation ist. Vielleicht schaffen Sie das gerade noch bis zur nächsten Zeitungsausgabe.