Karriere

«Spannungen haben Potenziale, die genutzt werden wollen. Sie bergen natürlich auch Risiken. Die Balance zu finden, ist dabei das Spannende.» Cartoon: Silvio Erni

Produktive Spannungen

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Es gibt wohl in jeder Organisation Spannungen. Mal mehr, mal weniger. Spannungen existieren zwischen Menschen oder Gruppen, zwischen Themen, Aussagen, Beschlüssen, Zielen, Regelungen und so weiter. Oft sind Spannungen unangenehm, man möchte sie am liebsten los sein. Auch wenn dieser Wunsch menschlich verständlich ist – Spannungen sind dennoch nötig. Nicht immer und überall, nicht in jedem Ausmass. Aber ohne Spannung bewegt sich nichts. Es ist wie bei der Elektrizität: Ohne Spannung fliesst kein Strom. Spannungen sind die Quelle jeglicher Entwicklung.

Das gilt auch für Führung. Es braucht eine produktive Spannung im Führungsraum, damit etwas erreicht werden kann. Produktiv heisst in der Regel: «Bewältigbar gross». Allzu grosse Widersprüche erzeugen nämlich eine dysfunktionale Spannung – und daraus erwächst nicht viel Gutes. Es geht um eine «Balance-kritische Entwicklung».

Mit der Definition «bewältigbar gross» wird das Kriterium, das über produktiv/dysfunktional entscheidet, – leider – auf die Betroffenen überwälzt. Denn Spannungen sind nicht absolut, sondern für jemanden noch bewältigbar oder aber zu gross. Wenn also die Beteiligten dazu in der Lage sind, können sie auch aus sehr grossen Spannungen eine überaus konstruktive Entwicklung ableiten. Umgekehrt sind andere aber kaum in der Lage, selbst relativ kleine Spannungen produktiv zu nutzen. Darauf will ich hier aber nicht weiter eingehen, sondern im Folgenden das Augenmerk auf die Art der interessierenden Spannungen legen.

Drei Polaritäten

Lassen wir hier die zwischenmenschlichen, also sozialen Spannungen weg. Die sind meist augenscheinlich. Lassen wir auch die sachlichen Spannungen weg, wie sie aus schwierig zu lösenden Sachproblemen oder Zielkonflikten resultieren. Über die stolpert man zwangsläufig. Konzentrieren wir uns hier auf psychologische Spannungen im engeren Sinn. Diese Art von Spannungen übersehen Führungskräfte oft, wodurch sie leicht dysfunktional werden oder zumindest nicht produktiv genutzt werden können.

Zuerst ein paar Beispiele für solche dysfunktionalen psychologischen Spannungen:

  • Zwischen dem, was in einem Unternehmen explizit behauptet wird, und dem, was sich implizit aus dem Verhalten und den Fakten des Unternehmens herauslesen lässt: Man behauptet (explizit) in den Führungsgrundsätzen, dass man auf eigenverantwortliche Menschen setze. Aber man praktiziert ein so lückenloses Kontrollsystem, dass damit (implizit) völlig klar wird, dass niemand an Eigenverantwortung glaubt.
  • Zwischen Dingen, die als kollektiv, und solchen, die als individuell betrachtet werden: Der Chef sagt ununterbrochen «Wir wollen ...», aber es ist nur er, der tatsächlich will.
  • Zwischen aussen und innen: Das Unternehmen will sich auf dem Markt von den Wettbewerbern differenzieren – macht aber intern (via «Benchmarks», «Best Practice») ständig alles nach, was die Konkurrenz tut.

Die Beispiele sind so gewählt, weil sich in Organisationen typischerweise in den darin angesprochenen drei Polaritäten psychologische Spannungen zeigen: explizit/implizit, individuell/kollektiv, innen/aussen. Sicherlich nicht nur dort, aber es lohnt sich, darauf zu achten, ob in diesen drei Polaritäten Spannungen bestehen und ob respektive wie sie produktiv genutzt werden können.

Balance-kritische Entwicklung

Produktiv sind Spannungen, wenn sie es erlauben, konstruktiv genutzt zu werden. Wenn also beispielsweise eine Struktur (= explizit; das schliesst Prozesse mit ein) eingeführt wird, die etwas mehr Eigenverantwortung verlangt, als in der Kultur (= implizit) bereits gelebt wird. Da kann die Kultur nachziehen. Oder wenn sich jemand bewusst (= explizit) einer Herausforderung stellt, die er sich innerlich (= implizit) nicht so ohne Weiteres zutrauen würde. Daran kann man wachsen. Oder wenn man etwas, das objektiv aussen ist (zum Beispiel eine andere Abteilung) – temporär – als innen betrachtet und sich fragt, wie man die Zusammenarbeit in diesem Fall organisieren würde.

Übrigens: Spannungen – produktive wie auch dysfunktionale – können natürlich nicht nur auf der sozialen, der sachlichen oder der psychologischen Ebene, sie können auch auf der Zeitachse – also zwischen gestern und heute oder heute und morgen – existieren. Auch dort liegt also ein produktives Entwicklungspotenzial.

Ziel einer Balance-kritischen Entwicklung ist freilich nicht so etwas wie Gleichgewicht. Führung muss Spannung ja gerade im Ungleichgewicht suchen, eine Spannung, die sich produktiv nutzen lässt.

Typischerweise überlegt man sich – bezogen auf psychologische Spannungen – Fragen von etwa folgender Art:

  • Ist es sinnvoller, etwas explizit zu benennen, oder soll man es nur implizit gelten und wirken lassen?
  • Ist etwas ein individuelles Problem oder/und ein kollektives? Kann man andere Lösungswege erkennen, je nachdem, ob man es (oder Teile davon) als individuell oder als kollektiv anschaut?
  • Verändert sich etwas in der Optik auf ein Problem, wenn man es als innen oder als aussen betrachtet? Abzuprüfen sind also die Varianten «Nehmen wir mal an, es sei mein/unser Problem» versus «Nehmen wir mal an, es sei sein/ihr Problem».
  • Wo erblickt man psychologische (aber auch andere) Spannungen? Werden sie als produktiv erlebt oder nicht?
  • Fehlt Spannung, wo sie «eigentlich» sein müsste? Sind Bereiche, Personen oder Gruppen in einer Komfortzone, in der überhaupt kein psychologischer Druck mehr für Entwicklung wachsen kann?

Spielräume werden enger

Ich glaube, am häufigsten dysfunktional sind heute psychologische Spannungen zwischen Kultur und Struktur. Man sieht es daran, wie unterschiedlich sich die beiden derzeit entwickeln. In aller Kürze:

Struktur ist auf dem Vormarsch: Bürokratisierung und Standardisierung nehmen zu und sind Ausdruck davon. Viele Aspekte von Führung werden dadurch substituiert – oder drohen, vernachlässigt zu werden. Folge dieser Entwicklung ist auch eine Zentralisierung, die diesen Prozess steuert und kontrolliert. Lokale Entscheidungsspielräume – und damit Spielräume für Führung – werden immer enger. Die zeitliche Kadenz der Erneuerungen auf struktureller Ebene verunmöglicht zudem häufig, jemals die Ernte von dem zu geniessen, was man eigentlich säen wollte.

Kultur ist – der Rede nach – «in». Sie wird als Allerweltheilmittel proklamiert, weil man sich erhofft, dass die Dinge ganz von alleine entsprechend den Erwartungen laufen würden, wenn man nur die richtige Kultur hätte. Als «richtig» wird dabei eine Kultur der Selbstständigkeit, der Eigenverantwortung, der Initiative und Autonomie sowie einer unternehmerischen Haltung auf jeder Stufe beschrieben. Dass diese Kultur – so man sie überhaupt «einführen» könnte – in einem unauflösbaren, also keineswegs produktiven Spannungsverhältnis zu den Trends im Strukturbereich steht, wird meistens ausgeblendet. Kaum verwunderlich, dass die kulturellen Appelle vor diesem Hintergrund ungehört verhallen.

Bei dem, was man als Führungskraft tut, muss man sich also immer fragen, welche Spannungen es induziert. Und ob sich erwarten lässt – besser: wie man dafür sorgen kann –, dass diese Spannungen produktiv sind. Dies ist zweifelsohne eine Kunst. Es gibt keine festen Regeln. Aber ebenso zweifelsohne kann man daran arbeiten, seine Kunstfertigkeit zu verbessern. In diesem Fall ist das sogar ganz ausgesprochen «spannend».