Karriere

«Nicht einmal Sie wissen, wie Sie ticken. Wie sollten es Ihre Leute wissen? Für beide wäre es nützlich, deutlich mehr darüber zu erfahren.» Cartoon: Silvio Erni

Ihr heimliches Drehbuch

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Wenn ich mit Ihnen über Ihre Arbeit reden würde, dann würden Sie mir wohl von Ihren Aufgaben erzählen, Sie würden vielleicht Ihre Ziele nennen, auf besondere Umstände, Herausforderungen und Rahmenbedingungen verweisen, kann sein, dass Sie mir ein Organigramm Ihres Zuständigkeitsbereichs zeigen würden, und vielleicht gäbe es einiges über laufende Projekte zu berichten. Ich würde erfahren, wie Sie Ihre Rolle verstehen, vor welchen Zielkonflikten Sie womöglich stehen und was Ihre Führungsüberzeugungen oder -grundsätze sind. Sie würden mir – Offenheit jetzt einmal vorausgesetzt – das sagen, was Ihnen in Bezug auf Ihre Arbeit bewusst ist. Es ist das, was Ihrem eigenen Denken zugänglich ist und was Sie explizieren, also sprachlich ausdrücken können. Nennen wir den Teil, der sich so von Ihnen zeigt, Ihr «Bewusstsein» – wobei hier freilich nur oder vor allem vom arbeitsbezogenen Bewusstsein die Rede ist.

Dieses Bewusstsein ist aber nur ein Teil von dem, was Ihr Denken und Handeln steuert und die Basis für Ihre Gefühle und Emotionen darstellt.

Ein anderer, wesentlich grösserer Teil ist Ihnen jedoch nicht bewusst und wirkt lediglich implizit – das heisst, er kommt in Ihrem Verhalten zwar zum Ausdruck, aber eben nur indirekt und unausgesprochen. Entstanden ist dieser (hier wiederum primär arbeitsbezogene) unbewusste Teil von Ihnen im Laufe Ihrer Berufsbiografie. Sie haben über die Jahre viele Dinge erlebt, Erfahrungen aller Art gemacht und daraus (ob bewusst oder nicht) Lehren gezogen. Das Unbewusste enthält die Verdichtung all dessen, und die wirkt wie ein heimliches Drehbuch Ihres Verhaltens. Es prägt Muster, in denen Sie vielleicht gefangen sind, es beeinflusst den Stil Ihres Verhaltens, es warnt Sie vor Gefahren (respektive Dingen, die Sie ängstigen) und es verleitet Sie mitunter zu Verhaltensweisen, die Ihr Ich keineswegs billigt und hinterher immer wieder bereut.

Zwei-Kammer-System

Zwei Dinge sind nun prekär bei diesem psychologischen Zwei-Kammer-System in Ihrem Kopf:

  • Ihr Unbewusstes ist Ihnen definitionsgemäss nicht unmittelbar zugänglich. Auch Sie können (wie ein fremder Beobachter) höchstens aus Ihrem faktischen Tun Rückschlüsse über Ihr «heimliches Drehbuch» ziehen. Anders aber als ein fremder Beobachter wird Ihr bewusstes Denken vieles davon gar nicht wahrhaben wollen, sondern im Lichte der eigenen Überzeugungen geradebiegen. Man könnte wahrlich behaupten, dass Ihnen Ihr eigenes «heimliches Drehbuch» noch weniger zugänglich ist als einem (sorgfältigen) fremden Beobachter.
  • Aus der Hirnforschung wissen wir, dass in unseren geistigen Prozessen der unbewusste Teil sehr viel grösser ist als der bewusste. Seeehr viel grösser. Man schätzt, dass das Gehirn eine Million Mal mehr Bits pro Sekunde unbewusst verarbeitet als bewusst. Salopp gesagt: Nur jedes Millionste Bit in Ihrem Gehirn dringt in Ihr Bewusstsein. Zwar wird viel von der ungleich grösseren unbewussten Verarbeitung für das Aufrechterhalten Ihrer körperlichen Prozesse und für automatisierte Routinen (wie Gehen oder Autofahren) verwendet, aber sehr vieles fliesst eben als «heimliches Drehbuch» ein in Ihr Denken und Tun – und zwar ohne Ihr Wissen!

Narratives Interview

Ihre bewussten Überzeugungen und Ihr «heimliches Drehbuch» sind nun keineswegs immer gleichgerichtet. Das bewusste Denken ist Argumenten oder der Logik durchaus zugänglich – solange es das «heimliche Drehbuch» erlaubt. Denn das Unbewusste ist Chef im Haus! Wenn ich Sie von etwas überzeugen will, das Ihrem «heimlichen Drehbuch» nicht passt, dann wird es Ihr Bewusstsein anweisen, die wildesten Argumente zu erfinden, um mich zu widerlegen.

Kann gut sein, dass Sie das alles gar nicht glauben. Zumindest nicht für Ihre Person. Sie halten es für undenkbar, dass das, was Sie den ganzen Tag bewusst denken, von einer unbewussten «dunklen Macht» wie ein heimliches Drehbuch gesteuert sein soll, das sich Ihnen gar nicht zeigt. Das kann ich gut verstehen, mir geht es – mit Bezug auf meine Person – gleich, denn ich bin ja nicht anders gestrickt als Sie. Aber die Forschungsergebnisse hierzu beweisen das Gegenteil. Tut mir leid.

Zwei Methoden sind besonders gut geeignet, um etwas über das «heimliche Drehbuch» einer Person zu erfahren: Die eine nennt man das Narrative Interview. Da erzählt eine Führungskraft viele Geschichten und Erlebnisse aus ihrer Führungsbiografie, und wenn man die sorgfältig genug analysiert, dann kann man viel über ihr «heimliches Drehbuch» herauslesen. Narrativ kommt übrigens vom Lateinischen, narrare heisst erzählen.

Die andere Methode ist die Verhaltensbeobachtung. Ohne wissenschaftlichen Anspruch betreiben alle Menschen gegenüber allen anderen (für sie relevanten) Menschen diese Methode ununterbrochen. Und zwar gar nicht mal schlecht. Wir lesen im Verhalten anderer, wie deren «heimliches Drehbuch» sie steuert – und wir glauben dem mehr als allen mündlichen Beteuerungen, die sie in ihrem bewussten Argumentieren von sich geben. Glücklich also, wer sehr authentisch ist, das heisst mit wenig Diskrepanzen zwischen seinem bewussten Denken und seinem «heimlichen Drehbuch» leben kann.

Glaubwürdigkeit untergraben

Authentisch zu sein ist nicht immer einfach. Für Führungskräfte ist es heutzutage sogar besonders schwierig (und das ist auch der Grund, warum ich Ihnen diese ganze Psychologielehrstunde zumute): Es gibt immer mehr sehr konkrete Erwartungen, wie Führungskräfte ihre Rolle auszufüllen haben. Führungskräfte passen sich diesen Erwartungen auf der Ebene ihres bewussten Denkens an. Damit besteht die Gefahr, dass sie nur noch eine Rolle spielen. Natürlich haben sie eine Rolle zu spielen, aber eben nicht nur. Sie müssten auch persönlich authentisch sein dürfen. Wenn nur noch das Bewusstsein zählt und das eigentlich steuernde «heimliche Drehbuch» tunlichst heimlich bleiben respektive wo nötig übersteuert werden soll, dann kann man nicht als authentisch erlebt werden. Die Glaubwürdigkeit einer Führungspersönlichkeit wird damit untergraben.

Das Problem wird verschärft durch einen Trend, der eigentlich gar nichts mit unserem Thema zu tun hat: Der Zeitgeist steht auf das Explizite. Heutzutage muss alles irgendwo ausdrücklich gesagt, besser aufgeschrieben werden. Davon zeugen nicht nur Qualitätsmanagementsysteme, bürokratische Reportingsysteme, formalisierte Mitarbeitergespräche und uferlose PowerPoint-Präsentationen zu jeder kleinsten Massnahme, sondern auch, dass Werte und Führungsgrundsätze eher formuliert (und grafisch schön dargestellt) als gelebt werden. Die Musik spielt ausschliesslich auf der Ebene des Bewusstseins – das individuelle «heimliche Drehbuch», das sich dem Bewusstsein ja definitionsgemäss verweigert, gilt da nicht als besonders interessant.

Sich ohne explizite Argumente auf Erfahrungen zu berufen, ist daher verpönt. Individuelle Unterschiede stören, eigenartige Persönlichkeiten wer- den kaum mehr geduldet. Die Folge: Führungskräfte reflektieren ihr «heimliches Drehbuch» kaum mehr. Wozu auch? Sie versuchen es – wo es sich im Verhalten zu zeigen droht – eher mit «genormtem» Verhalten zu übertünchen: Sie lernen blitzschnell, wie sie sich ausdrücken müssen, welche Begriffe erwünscht sind, wie man argumentieren muss. Zeitungsinterviews mit Managern sind in den allermeisten Fällen so, als hätte das immergleiche PR-Büro den Text verfasst – von der Persönlichkeit des jeweiligen Managers und dem sie prägenden «heimlichen Drehbuch» ist nichts Authentisches spürbar. Mir gefällt diese Entwicklung nicht.

Führungsentwicklung kann nur erfolgreich sein, wenn eine Führungskraft ihr Selbstverständnis reflektiert, in dem ihr «heimliches Drehbuch» zum Ausdruck kommt. Nur so wird sie eine Chance haben, sich als Führungskraft wirkungsvoll weiterzuentwickeln. Anpassungen auf der Ebene des Verhaltens reichen hierfür nicht. Beobachten Sie sich und lernen Sie etwas über Ihr «heimliches Drehbuch», reflektieren Sie es und bleiben Sie authentisch.

Doch missbrauchen Sie bitte meine Argumentation nicht, um sich vor persönlicher Weiterentwicklung zu drücken. Authentisch sein heisst nicht, seine Fehler für gottgegeben und unabänderlich zu halten.