Karriere

«Disziplin ist eine Kraft. Man muss sie trainieren. Sie wird bei Gebrauch erschöpft. Man hat nicht unbegrenzt davon. Doch ohne geht nichts.» Cartoon: Silvio Erni

Disziplin

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Manchmal werde ich bei Teamentwicklungen oder in Führungsentwicklungsworkshops mit der Frage konfrontiert: «Wie können wir (kann ich) erreichen, dass...?». Und dann werden Dinge genannt wie «...dass unsere Sitzungen pünktlich beginnen» oder «...dass ich die Abgabetermine pünktlich einhalte» oder dergleichen.

Die Frage wird in einem Tonfall gestellt, als gälte es, mit viel Intelligenz eine äusserst innovative Lösung für ein ganz und gar anspruchsvolles Problem zu finden. Dabei geht es oft – und ich rede hier nur von den Fällen – um überhaupt nichts anderes als um Disziplin. Bloss, das will keiner hören. Denn Disziplin ist out.

Wer von Disziplin redet, kann seinen Moralinfinger kaum verstecken. Er wirkt altväterisch-preussisch-oberlehrerhaft-streng, also ziemlich uncool. Wir haben eine gesellschaftliche Phase hinter uns, die Kinder «antiautoritär» zu erziehen versuchte. Das hats zwar nicht gebracht, aber ein Rückfall in alte Muster kam nicht in Frage. Und so resultierte oft ein profilloses Wischiwaschi. Parallel dazu hat sich ja auch in der Führungswelt eine Ablösung von der autoritären Führung ereignet – Gottseidank! –, aber der Weg zu einer neuen Klarheit wurde noch nicht immer gefunden.

Unter dieser Entwicklung hat auch die Selbst-Führung gelitten: Wie gehe ich mit mir, wie gehen wir mit uns selbst um? Hier gibt es für Disziplin (auch Selbstdisziplin, Willenskraft, Willensstärke genannt) einen nicht zu unterschätzenden Platz.

Intelligenz und Selbstdisziplin

Was wissen wir aus der psychologischen Forschung darüber?

  • Für das Geheimnis der Lebenszufriedenheit haben Psychologen zwei besonders wichtige Eigenschaften identifiziert: Intelligenz und Selbstdisziplin.
  • Mit seiner Intelligenz muss man sich mehr oder weniger abfinden, an seiner Selbstdisziplin kann man arbeiten.
  • Willenskraft ist eine Kraft – sie braucht Energie, sie kann erschöpft werden und sie kann trainiert werden. Wir können also lernen, uns selbst besser in den Griff zu bekommen.
  • Wenn wir nach unseren persönlichen Stärken gefragt werden, dann nennen wir oft Ehrlichkeit, Güte, Humor, Kreativität, Mut, sogar Bescheidenheit – aber kaum je Selbstdisziplin. Bei einer Befragung von mehr als zwei Millionen Menschen in aller Welt landete die Selbstdisziplin an letzter Stelle der abgefragten «Charakterstärken». Dafür stand bei den Schwächen die mangelnde Selbstdisziplin ganz oben.
  • Es gibt beruflich wie privat heutzutage mehr Ablenkungen als je zuvor. Es wächst also die Bedeutung der Disziplin, wenn man sich nicht durch allerlei Unwichtiges von seinen eigentlichen Vorhaben abbringen lassen will.
  • Unsere Willenskraft hat Grenzen und wird bei Benutzung geschwächt.
  • Wir benutzen dieselbe Willenskraft für alle möglichen Aufgaben.
  • Die Erschöpfung der Willenskraft – beispielsweise nach einer Reihe von Tä- tigkeiten, die Willenskraft und Disziplin erforderten – nennt sich fachlich Ego-Depletion (Ego-Erschöpfung) und lässt sich physiologisch messen. Es ist also nicht empfehlenswert, schwierige Entscheide, die viel Willensstärke brauchen, treffen zu wollen, wenn man vorher grad während Stunden für irgendetwas viel Disziplin aufbringen musste: Die Willenskraft ist dann womöglich schon allzu erschöpft.
  • Ohne genügend Glukose im Blut gibt es keine Willenskraft. Füttern Sie die Disziplin! Aber nicht mit Zucker, denn der wirkt zwar schnell, aber nur kurz, und der anschliessende Glukosemangel ist umso heftiger. Ich nehme an, Sie kennen die gängigen Ernährungsregeln.
  • Disziplin ist auf realistische Ziele angewiesen. Zumindest auf realistische Zwischenziele. Die Anonymen Alkoholiker nehmen sich nicht vor, nie mehr zu trinken. Sie lernen bloss, «heute das erste Glas stehen zu lassen».
  • Ihre Willenskraft können Sie an beliebigen Dingen trainieren. Egal, ob Sie sich mit der linken Hand die Zähne putzen oder versuchen, nicht mehr «Äh» und «Öh» zu sagen. Training stärkt die Kraft, aber es ermüdet auch.
  • Am wenigsten Energie braucht Disziplin, wenn sie in Gewohnheit übergeführt werden kann. Das zu erreichen, braucht zumindest anfänglich aber viel Disziplin.
  • Manche Tricks, wie wir sie etwa aus den Anleitungen zur persönlichen Arbeitstechnik kennen, helfen beim Trainieren der Disziplin. Dazu gehört auch, sich auf eine Selbstverpflichtung einzulassen oder sich gegenüber Dritten zu verpflichten (für Letzteres gibt es heutzutage schon Apps ...).
  • Kontrollieren Sie sich selbst. Stellen Sie sicher, dass Sie jederzeit wissen, ob Sie in den Dingen diszipliniert waren, in denen Sie diszipliniert sein wollten.
  • Sagen Sie niemals nie. Seien Sie nicht absolut. Disziplin ist kein Selbstzweck, sondern eine Kraft, die Sie dann zur Verfügung haben sollten, wenn Sie ihrer bedürfen.
  • Akzeptieren Sie Ihre Grenzen: Nobody is perfect!

Mit der nötigen Übung

In der Arbeitswelt haben/hätten wir es eigentlich viel einfacher mit all diesen Dingen. Denn wir sind unter permanenter sozialer «Überwachung». Das können wir nutzen. Wenn wir uns gegenseitig darauf verpflichten, gewisse Dinge sehr diszipliniert einzuhalten, dann lässt sich das relativ leicht tun. Man kann eine paradoxe Tatsache feststellen: In Unternehmen, bei denen Sitzungen pünktlich beginnen, ist es ganz einfach, pünktlich zur Sitzung zu erscheinen – und umgekehrt.

Es gibt jedoch ein grosses Aber: Nichts aus der Forschung zur Disziplin erklärt, weshalb wir X oder aber eben Y wollen. Es wird lediglich erklärt, was es braucht, um mit Willensstärke und Selbstdisziplin dranzubleiben, wenn wir ein bestimmtes Ziel erreichen wollen. Woher das Ziel oder Motiv kommt, bleibt dabei völlig ungeklärt.

Für unseren Kontext heisst das: Wenn Sie etwas wirklich durchsetzen wollen und wenn Sie dazu «nur» hinreichende Selbstdisziplin brauchen – dann lässt sich dies erreichen. Nicht allzu leicht vielleicht, aber es ist mit der nötigen Übung möglich. Wenn Sie sich die Mühe der Übung und des Trainings der erforderlichen Willenskraft aber nicht machen, dann ist zu bezweifeln, dass Ihnen das angestrebte Ziel wirklich wichtig ist. Dann ist es wohl eher ein «Man sollte...» als ein «Ich will...» respektive «Wir wollen...». In dem Fall wird die Sache also noch viel einfacher: Streichen Sie das Ziel! Denn es ist Ihnen die Mühe offenkundig nicht wert.

Damit wir uns richtig verstehen: Es kann nicht darum gehen, eine Unternehmenskultur der militärischen Kultur herbeizudrillen. Das wäre öde. Doch wenn Sie ein Ziel erreichen wollen, für das man nur Disziplin braucht, dann suchen Sie nach keiner anderen Lösung. Für diesen Fall aber sollte Ihre Willenskraft hinreichend trainiert sein. Alles andere endet in Frust, Enttäuschung und geistigem Muskelkater.