Karriere
Entscheide erleben
Felix FreiMein Lieblingssoziologe, Niklas Luhmann, hat eine eigene Systemtheorie entwickelt, der zufolge sich Systeme durch jeweils genau eine Operation definieren. Organisationen zum Beispiel definieren sich dadurch, dass sie Entscheide prozessieren. Prozessieren bedeutet hier: Entscheide werden vorbereitet, herbeigeführt, gefällt, kommuniziert, umgesetzt, vielleicht revidiert oder umgestossen. Das ist das Kerngeschäft von Organisationen respektive die Kernaufgabe des Managements. Kein Wunder also, dass in den bisherigen Führungsbriefen das Wort «Entscheid» durchschnittlich gut zweimal pro Brief vorkommt.
Wir können in der bunten Welt der betrieblichen Organisationen (Politik zum Beispiel klammere ich mal aus) vier Arten, Entscheide zu treffen, unterscheiden. Diese vier Arten werden von den Betroffenen unterschiedlich erlebt. Und aufs Erleben kommt es an (zumindest, wenn wir mit Entscheiden auch Menschen bewegen wollen)!
Da ist zunächst die (kardinals-) rote Art des päpstlichen Entscheids. Die gibt es nicht nur in Rom, sondern auch anderswo. Wenn Papst Franziskus oder Papst Mark oder Papst Jeff oder Papst Tim entschieden haben, dann ist entschieden. Jeder in der Organisation weiss und akzeptiert das. Mit dem Entscheid mag man nicht immer glücklich sein, aber man weiss, woher er kommt. Und man weiss, dass er gilt.
Dann gibt es die (uniformen-) grüne Art des militärischen Entscheids. Die gibt es nicht nur in der Armee (in Friedenszeiten übrigens gerade dort am allerwenigsten, aber das ist ein anderes Thema), sondern auch in der Hierarchie der Ärzte oder bei Piloten und Schiffsbesatzungen. Hier gibt es eine glasklare «line of command», und jeder kennt seinen Platz darin und hält sich daran. Hinterfragen zählt nicht. Insubordination ist sträflich. Das ist nicht immer angenehm, aber immer entlastend.
Weiter gibt es die (nebel-) graue Art des anonymen Entscheids. Diese ist heutzutage weitverbreitet in den Unternehmen. Sie ist auf einem pseudodemokratischen Zeitgeist gewachsen und besteht darin, dass niemand erkennbar ist, der den Entscheid gefällt hat. In der Fachsprache redet man von Emergenz: Entscheide emergieren, das heisst, sie tauchen aus dem Nirgendwo auf und sind plötzlich da. Die Dinge werden auf verschiedensten Ebenen hin und her erörtert und plötzlich scheint nur noch eine Option übrig zu bleiben, so dass man die für den gefällten Entscheid hält. Vielleicht sah man auch bloss keine Alternative. Es ist weder ein Mehrheitsentscheid noch ein Chefentscheid, sondern bestenfalls eine Art von Konsens. Schlechtestenfalls aber ist es eher ein Nicht-Entscheid oder – nicht selten – ein Ermüdungsergebnis.
Unbeliebte «Ich»-Entscheide
Es sind diese grauen Entscheide, die den Menschen in den Organisationen Mühe machen. Man ist ihnen ausgeliefert wie den roten oder grünen – aber man kann sie im Unterschied zu diesen nicht sauber adressieren. Das bedeutet, dass man sie auch nicht einklagen kann. Und man findet längst nicht immer jemanden, der sie einem erläutern kann. Das gibt ein Gefühl der Hilflosigkeit und den Eindruck, «die da oben» würden gar nichts entscheiden.
Dass die grauen Entscheide weitverbreitet sind, liegt auch daran, dass sich Manager heutzutage für alles verantworten müssen, selbst für Entscheide, die sie gar nicht getroffen haben. Und manch ein Entscheid wird heute bejubelt, morgen aber schon verteufelt. Und all das in einer erbarmungslosen externen Öffentlichkeit, die es früher so nicht gab. Kein Wunder, wenn sich manch einer anonym hinter grauen Nebelschwaden verstecken möchte.
Der Zeitgeist scheut sich vor «Ich»-Entscheiden. Auch die roten und die grünen Entscheide sind bei genauer Betrachtung nämlich keine. Die roten (päpstlichen) werden häufig viel weiter unten getroffen, aber man trifft sie im Namen respektive im Geiste des Oberhirten. Die grünen (militärischen) werden oft als Gehorsam gegenüber noch weiter oben – und damit auch nicht als persönlich zu verantworten – deklariert. Beide berufen sich aber auf eine höhere Macht (Religion, Gesetz, Vorschriften usw.) und werden deshalb weitgehend akzeptiert.
Führungskräfte aber hätten die Aufgabe, Entscheide als Personen zu treffen. Nur tun sie (oder zumindest viele von ihnen) das offenbar ungern. Selbst wenn sie eine glasklare Meinung haben, richten sie häufig eine Art von Partizipation oder Quasidemokratie ein und hoffen, das Ergebnis der Debatte stimme mit ihrer Ansicht überein. Unnötig zu sagen, dass sie die Beteiligten frustrieren, sobald diese merken, dass der Beteiligungs- oder Mitspracheprozess so lange fortgesetzt wird, bis sie ganz zwanglos zur Meinung des Chefs gelangt sind ...
Oder, auch sehr beliebt, Führungskräfte drücken sich vor persönlichen Entscheiden, indem sie beklagen, sie hätten keine oder zu wenig oder zumindest keine klare Entscheidungskompetenz.
Die weisse Entscheidkultur
Natürlich plädiere ich hier nicht für selbstherrliche «Ich»-Entscheide. Aber ich votiere für eine vierte Farbe, nämlich für (scheinwerferlicht-) weisse Entscheide. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass – zumindest intern – klar ersichtlich wird, wie sie zustande gekommen sind und wer sie verantwortet.
- Ein GL-Mitglied sagt dann nicht mehr bloss «Die GL hat entschieden, dass ...», sondern fügt bei, wie es selbst dazu steht.
- Ein CEO macht klar, ob er selbst entschieden hat oder ob er eine Mehrheit der GL hinter sich haben wollte (und andernfalls nicht so entschieden hätte) oder ob er auf einem Konsens bestanden hat.
- Subalterne Führungskräfte verdeutlichen, ob etwas ihr Entscheid (und ihre Kompetenz) war oder ob sie höhere Entscheide ausführen respektive weitergeben (müssen).
- Gremien oder Projektgruppen nennen explizit, auf welchem Modus ihr Entscheid basiert: Auf Abstimmung oder Konsens oder Chefentscheid.
- Protokolle, soweit vorhanden, enthalten immer auch eine eindeutige Verantwortlichkeit zu den getroffenen Entscheiden und erwähnen die Regel, nach der der Entscheid zustande gekommen ist.
Was mir also vorschwebt, ist das genaue Gegenteil von dem, was wir vor Jahren bei einem Kunden erlebt haben. Der dortige Geschäftsführer (damals gab es in der Schweiz noch keine CEOs) pflegte die Diskussionen derart ungeführt laufen zu lassen, dass schliesslich völlig unklar war, wer welche Meinung vertrat und was denn nun zu tun sein. Auf dem jeweiligen Höhepunkt der Verwirrtheit sagte er fröhlich und mit mannhafter Stimme: «Also mameseso!» (zu Deutsch: Machen wir es so!). Damit war die Sitzung aufgehoben, alle zerstreuten sich, und keiner wusste, was denn nun entschieden worden war. Das hat unschätzbare Vorteile, denn keiner kann zur Verantwortung gezogen werden, nie ist jemand schuld und alle machen weiterhin, was sie wollen. Es hat freilich den klitzekleinen Nachteil, dass das Unternehmen so nie vorankommt.
Eine weisse Entscheidkultur hat dagegen den Vorzug, dass alle wissen, woran sie sind. Das fördert nicht nur die Akzeptanz von Entscheiden, es schafft sogar Glaubwürdigkeit von Entscheiden, die von der eigenen Meinung abweichen. Und darüber hinaus gestattet eine weisse Entscheidkultur, im Bedarfsfall einen Entscheid umzustossen und abzuändern, ohne dass damit «die da oben» gleich das ganze Vertrauen in ihre Führungsfähigkeit verspielen. Klüger werden darf man nämlich. Nur herumeiern sollte man nicht. Entscheide sind immer nur so gut, wie sie als glaubwürdig erlebt werden.
Stellen Sie sich und Ihr gesamtes Management vor einen Spiegel: In welcher Farbe werden die Entscheide, die bei Ihnen getroffen werden, von Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erlebt?