Karriere
Handlanger
Felix FreiHandlanger, sollte man meinen, gibt es praktisch nicht mehr. Selbst Arbeitskräfte ohne formelle Ausbildung werden heute innerbetrieblich ausgebildet oder angelernt. Handlanger, wie sie früher gang und gäbe waren, sind von der Bildfläche verschwunden. Könnte man denken.
Doch dieser Eindruck täuscht. Die Handlanger von heute sehen nämlich nur anders aus als früher. Sie tragen Krawatte oder Deuxpièces. Man nennt sie Führungskräfte. Und sie verdienen auch mehr als frühere Handlanger.
Dass ich sie (Sie?) als Handlanger bezeichnen muss, ist zwar bedauernd, aber nicht etwa despektierlich gemeint und hängt mit folgender Entwicklung zusammen: In den Unternehmen ist ein gigantischer Wandel im Gang, den man je nach Optik als Bürokratisierung oder McDonaldisierung oder Mechanisierung bezeichnen kann.
Der erste Begriff verweist darauf, dass Unternehmen heute immer mehr in übergeordnete Vorschriften und Regelungen eingebunden sind. Ob die aus (z.B. EU-) Normen oder aus Qualitätsvorschriften oder aus einer zunehmenden Regulierung im Interesse der «Good Corporate Governance» resultieren, macht keinen Unterschied.
Der zweite Begriff verweist darauf, dass vor allem grosse Unternehmen wollen, dass ihre Produkte und Dienstleistungen auf stets gleichbleibendem Niveau angeboten werden. Ein McDonald’s-Laden ist ein McDonald’s-Laden ist ein McDonald’s-Laden – weltweit. Ein Apple-Händler in der Schweiz bekommt aus Cupertino auch noch das letzte Detail seiner Ladengestaltung vorgeschrieben.
Der dritte Begriff verweist darauf, dass man mittels weitestgehender Computerisierung und detailliertester Prozessdefinitionen auf einen Zustand hinstrebt, der die ganze Organisation als eine einzige grosse Maschine begreift, die möglichst auf Knopfdruck zu laufen hat.
Schmieröl in der Maschine
Führungskräfte sind die Handlanger nicht etwa von jemandem (z.B. ihrem Chef), sondern sie sind die Handlanger dieser Tendenzen. Sie sind das Schmieröl in der Maschine. Sie setzen die Regelungen um und die Vorgaben durch, und sie beseitigen Störungen. Sie sind überaus funktional für Effizienz wie auch Effektivität des Ganzen. Aber sie gestalten (es) nicht mehr.
«Erfunden» werden die Regelungen und Vorgaben sowie das Design der unternehmerischen Grossmaschine von wem auch immer. Aber nicht von den betroffenen Führungskräften selbst. Nur bezogen auf Einzelheiten kann man manchmal den/die Urheber angeben, aber das Insgesamt dieses Wandels ist «systemisch», also meist nicht mehr persönlich adressierbar. Es geschieht einfach. Wir können nur mitmachen. Als Handlanger. Wenn auch mit Krawatte oder Deuxpièces.
Wenn Ihnen diese Sicht zu pessimistisch erscheint, wenn Sie darin sich selbst sowie Ihr Unternehmen nicht (oder noch nicht?) zu erkennen vermögen, so schauen Sie sich doch einmal als normale/r Zeitungsleser/in in Ihrem Alltag um:
- Die Börsen werden nicht von Händlern, sondern (inzwischen bereits zu zwei Dritteln) von Computerprogrammen bewegt. Auch und gerade in den wilden Berg- und Talfahrten.
- Alles, was Unternehmen «erfinden», um sich von ihren Wettbewerbern zu differenzieren, folgt einer genau identischen Logik. Alle hören (pro Markt/Branche natürlich) von den gleichen Beratern die gleichen Vorschläge und rennen somit parallel in die gleiche Richtung.
- Führungskräfte sind überwiegend damit beschäftigt, zwischen dem Druck, der von verschiedensten Seiten auf sie einwirkt, nicht aufgerieben zu werden. Sie sind vornehmlich reaktiv, kaum je aktiv. Sie gestalten nicht, sondern sie versuchen, Begründungen für Zwänge zu finden und zu geben und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dazu zu bewegen, sich diesen Zwängen zu unterziehen.
- Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind nicht mehr freundlich zu Kunden, weil sie persönlich so sind oder weil ihre Vorgesetzten sie dazu geführt haben, sondern sie spulen am Telefon die standardisierten Floskeln herunter, die man ihnen vorgeschrieben hat. Und zwar so schnell, dass ich von ihrem «Firma XY, mein Name ist NN, was kann ich für Sie tun?» meist gar nichts verstehe.
- Und wenn Sie selbst als Kunde mal eine Reklamation anbringen wollen, dann erhalten Sie zwar detaillierteste Begründungen und Beschreibungen interner Prozesse, Abläufe, Vorschriften, Normen und Regelungen – aber sicherlich keine Hilfe.
So weit, so unerfreulich.
Mal reaktiver Handlanger, mal aktiv Führender
Aber nun kommt hinzu, dass immer mehr Führungskräfte (vor allem aus dem Top-Management) beklagen, ihre Führungskräfte würden viel zu wenig führen. Und Leute wie ich stossen ins gleiche Horn und rufen unbeirrt und ununterbrochen danach, Führungskräfte müssten führen.
Also wie nun? Zuerst degradieren wir Führungskräfte zu Handlangern in einer bürokratisierten, mcdonaldisierten, mechanisierten Maschine, wo sie als Maschinengehilfen Störungen beheben, Reibungen vermindern und Vorgaben umsetzen sollen – und dann rufen wir entrüstet aus: «Ja, nun führen Sie doch mal endlich!!!»
Führung braucht Handlungsspielraum. Handlungsspielraum bedeutet nicht die Freiheit, die Dinge genau so zu tun, wie sie vorgeschrieben sind. Handlungsspielraum bedeutet, Dinge mindestens innerhalb gesetzter, aber nicht zu enger Bandbreiten nach eigenen Überzeugungen gestalten zu können.
Wir sollten uns entscheiden, was wir von den Führungskräften erwarten. Und wenn wir beides gleichzeitig erwarten – mal reaktiver Handlanger und mal aktiv Führender –, dann müssen wir uns gut überlegen, wie wir Führungskräfte in diesem schwierigen Balance-Akt unterstützen können. In den herkömmlichen Führungsentwicklungshandbüchern steht das bislang noch nicht.
Komplizierend kommt hinzu, dass Sie alle ja nicht nur Opfer dieser Handlanger-Entwicklung sind. Sie sind öfters auch Täter. Denn wenn es eingangs so schön hiess, dieser Wandel sei «systemisch», so ist damit nicht gemeint, dass ihn keiner vorantreibt, sondern vielmehr, dass letztlich jeder daran mitspielt. Auch Sie. Manchmal, indem Sie Ihre Leute in die Rolle von Handlangern drängen, die gefälligst bloss eine mechanische Maschine reibungslos am Laufen zu halten haben. Manchmal aber auch, indem Sie Ihren eigenen verbleibenden Handlungsspielraum gar nicht mehr sehen und sich selbst auch dort noch zum Handlanger degradieren, wo das gar niemand von Ihnen erwarten würde.
Nehmen Sie sich den grösstmöglichen Handlungsspielraum! Und geben Sie Ihren Leuten den grösstmöglichen Handlungsspielraum! Tragen Sie mit ein wenig Mut und etwas Fantasie dazu bei, die Bürokratisierung zu bremsen! Die grosse Maschine verhindern Sie damit nicht. Aber wenn Sie in Ihrer Jugend ein Töffli besassen, wissen Sie: Auch eine Maschine muss man manchmal frisieren.