Karriere

«Amüsant, wenn wir mal nur noch Mitarbeiter haben, die einander fragen: ‚Wann haben Sie zum letzten Mal den Nobelpreis abgelehnt?‘» Cartoon: Silvio Erni

Ungenügend

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Es geht ein Gespenst um in der Wirtschaft: Der Krieg um Talente! Nur wer die allerallerbesten Leute hat, kann heute noch bestehen, so klingt es allenthalben. Wirklich? Kommt da eine wunderbare Welt von nur höchsttalentierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf uns zu? Traumhaft!

Freilich nagen da auch leise Zweifel: Glauben Sie wirklich, dass die Unternehmen, die nur noch die Allerallerbesten wollen, denen auch die allerallerbesten Aufgaben zu bieten haben? Jedenfalls stelle ich es mir ganz amüsant vor, wenn dann der eine akademisch bestausgebildete Magaziner den anderen akademisch bestausgebildeten Magaziner höflich fragt: «Wann eigentlich haben Sie zum letzten Mal den Nobelpreis abgelehnt?»

Natürlich brauchen Unternehmen gute, also geeignete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – geeignet für die gestellten Aufgaben und angestrebten Ziele, geeignet für die angestrebte Unternehmenskultur, geeignet für die Teams, in die sie als konstruktive Mitspieler passen sollen. Wenn aber zur Eignung zwingend das Talent gehört, nach spätestens einem Jahr den nächsten Karrieresprung zu machen, so kann das ja wohl nicht zum unternehmerisch langfristig gewünschten Personalkörper führen. Resultat wäre vielmehr ein wildes internes Job-Hoppen und ein heftiger Kampf um die Plätze, wenn der Flaschenhals gegen oben enger wird. Der Krieg zwischen Talenten also.

Vergessen Sie bitte nicht, was die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – die ja wissen, was sie können und was nicht – herauslesen, wenn ihr oberster Boss verkündet, nur noch die allerallerbesten Talente seien für ihn gut genug: Dass sie wohl besser den Stellenanzeiger aufschlagen...

Der Ruf nach den allerbesten Talenten gilt aber nicht nur den neu anzustellenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Tatsächlich wird auch bei allen vorhandenen, vielleicht langjährigen und verdienten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danach gerufen, kontinuierlich zu überprüfen, wer ungenügende Leistung erbringe und ihn oder sie entweder subito zu besserer Leistung zu bringen (via Führung oder Ausbildung) oder – wenn dies nicht in nützlicher Frist gelinge – auszuwechseln. Dieser kriegerische Ruf entspricht zwar keineswegs einer Unternehmenskultur, die ich persönlich gut und nachhaltig fände, aber meine Präferenzen wollen wir hier mal beiseitelassen.

Verteilung nach Glockenkurve – echt?

Sorge hingegen bereitet mir eine Argumentation, die man immer häufiger hört: Die Leistung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verteile sich nach der berühmten Glockenkurve, die die Statistiker als Normalverteilung bezeichnen. Will sagen, es gäbe einige mit Spitzenleistung, viele mit durchschnittlicher Leistung und einige mit ungenügender Leistung. Die Zahl der Letzteren wird dann mit sagen wir 15% veranschlagt, und auf die wird nun zur Jagd geblasen.

Was ist von dieser Normalverteilungsargumentation zu halten?

  • Normalverteilung – also die sogenannte Gauss’sche Glockenkurve – ist ein statistischer Fachausdruck, der nicht etwa besagt, was «normal» ist, sondern (grob vereinfacht) was zu erwarten ist, wenn ein Merkmal zufällig um einen Mittelwert herum schwankt. Das schliesst ein, dass niemand gezielt darauf Einfluss nimmt. Leistung im Unternehmen ist also dann normalverteilt, wenn niemand darauf Einfluss nimmt und man die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zufällig ausgewählt hat. Kein wirklich gutes Zeugnis für eine Unternehmensführung!
  • Statistische Verteilungen gelten für grosse Stichproben. Sie auf ein Team von – sagen wir typischerweise etwa – sieben Leuten zu übertragen, ist grobfahrlässig. Natürlich kann und wird es in jedem Team Leistungsunterschiede geben. Aber sie sind nicht zwingend so verteilt, dass man die untersten 15% – das entspricht einer Person – als ungenügend qualifizieren müsste. Abgesehen davon, dass Leistung meist verschiedene Facetten hat und es nicht immer die gleiche Person ist, die in jeglicher Facette relativ zu den anderen am schlechtesten abschneidet.
  • Wenn also in Unternehmen Leistungsbeurteilungssysteme eingeführt werden, die die einzelnen Vorgesetzten dazu zwingen, in ihrem Team einen vorgegebenen Prozentsatz – sagen wir eben 15% oder eine Person – als ungenügend zu qualifizieren, so zeugt dies nicht von überbordendem Sachverstand. Von einer Geschäftsleitung, die so etwas beschliesst, möchte ich gerne wissen, wer in ihrem Siebnerkollegium der Ungenügende ist! Man schmeisse ihn bitte sofort raus!

Über die eigene Nasenspitze hinaus

Gute Führung kann durchaus erreichen, dass alle Direktunterstellten einen genügenden, ja einen guten, ja sogar einen sehr guten Job machen. Und mehr noch: Es ist die Aufgabe einer guten Führung, genau dies anzustreben. Selbstredend kann es dabei im Einzelfall vorkommen, dass man als Chef erkennt, dass jemand im eigenen Team nicht genügt. Und dann muss man auch konsequent sein und Massnahmen ergreifen. Aber nirgendwo steht geschrieben, dass man jährlich und zwar in jeweils einem Fall zu diesem Schluss kommt.

Nur am Rande: Wenn ein Unternehmen durch entsprechende Vorgaben eine Leistungsbeurteilung gemäss Normalverteilung erzwingt, dann erschafft es sich diese Normalverteilung – obwohl in Tat und Wahrheit vielleicht gar keine vorhanden (gewesen) wäre.

Dürfen wir nicht von (obersten) Führungskräften erwarten, dass sie ein ganz klein wenig über die eigene Nasenspitze hinaus denken? Dass sie sich also fragen, wohin sich ihre Unternehmenskultur entwickelt, wenn jährlich die «ungenügenden“ 15% der Belegschaft identifiziert und entsprechenden Massnahmen zugeführt werden? Dass sie sich ausmalen können, was damit im gesamten Unternehmen an Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit zerstört, was an Angst geschürt und was an Vertuschung gefördert wird?

Dürfen wir nicht auch gleichzeitig von (allen) Führungskräften erwarten, dass sie sich unablässig die Frage stellen, ob ihr Team und jedes seiner Mitglieder leistungsmässig genügen oder nicht? Und dass sie in der Lage sind, in geeigneter Weise damit umzugehen? Das Ergebnis genauen und kritischen Hinschauens kann ja durchaus sein, dass die Leistung aller im Team ganz hervorragend ist! In diese Leistungsbeurteilung muss freilich immer auch einfliessen, wie die eigenen Direktunterstellten wiederum ihre Direktunterstellten führen und qualifizieren (das so genannte Grossvater-Prinzip). Denn nur so kann verhindert werden, dass gute Leistung mit blindem Beschönigen oder aktivem Wegschauen bei tatsächlich ungenügender Leistung verwechselt wird.

Kneifen gilt nicht!

Vielleicht dürfen wir schliesslich von jedem und jeder im Unternehmen – auf welcher hierarchischen Stufe auch immer – erwarten, sich selbst die Frage zu stellen, ob er oder sie den gestellten Anforderungen genügt oder nicht. Bei Führungskräften zum Beispiel lautet eine dieser Anforderungen, die Leistungsfähigkeit der eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kompetent, kritisch und fair beurteilen zu können...

Im Grunde ist es eine Kapitulation der Führung vor sich selbst, wenn ein Topmanagement seinem Kader diese Aufgabe nicht zutraut. Wo dieses Zutrauen zur Beurteilungsfähigkeit der Leistung der eigenen Leute zu Recht fehlt, gibt es für die Führungsarbeit des obersten Managements nur eine Note: Ungenügend!

Wir sollten uns davor hüten, den Führungskräften immer mehr von ihrer Führungsverantwortung wegzunehmen und sie durch HR-Systeme zu ersetzen versuchen. Gute Personalarbeit in Ehren. Aber Führung ist Sache der Linie.

Wo immer die Leistung eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin oder einer Führungskraft als ungenügend zu qualifizieren ist, da ist der oder die direkte Vorgesetzte gefragt. Niemand sonst. Kneifen gilt nicht!