Karriere

Wünscht ein Kunde beispielsweise eine Reiseberatung, ist ein persönliches Gespräch in einer angenehmen Umgebung das A und O. Dazu gehört empathisches Geschick, es ist wichtig, den Kunden «abholen» zu können. Ein Video-Call ist definitiv nicht der beste Weg. Bild: Adobe Stock

Einwurf Büroarbeit oder Home-Office?

Vanessa Bay

Büroleute wollen plötzlich nicht mehr ins Büro, wundert sich Vanessa Bay – und sagt, wie KMUs das Problem angehen sollten.

Nun wird sie rundum diskutiert, diese Grundsatzfrage: Wer muss, wer darf, wer will, wer darf nicht im Home-Office arbeiten? Wie oft? Wie geregelt? Und kriegt einen Bürostuhl ins Heim geliefert, wer da nur Küchenstühle hat? Und wie ist das eigentlich mit Nespressokapseln, einer Stromentschädigung überdies? Fragen über Fragen, die in meinem privaten Freundes- und Kollegenkreis mit Enthusiasmus diskutiert werden – verlässlich angefeuert durch die breiten Medien.

Eigentlich wäre die Sache ja ganz einfach, ganz pragmatisch zu handhaben: Man einigt sich auf ein paar Spielregeln und zeigt sich beidseitig flexibel. Man redet miteinander. Zumindest in KMUs, wie sie in unserer Branche typisch sind. Aber je mehr mich die Pandemie in den letzten eineinhalb Jahren über diese Frage nachsinnen liess, desto komplizierter wurde alles.

In der Tat: Die Pandemie ist schuld. Aber nicht die Corona-Pandemie. Eine andere Pandemie geht um. Mindestens so ansteckend, glücklicherweise nicht tödlich, aber dafür viel schwieriger auszurotten – und kein Impfstoff weit und breit. Der Name dieser Pandemie: Corporatitis (wie sie ein Kollege im Travelnews-Verwaltungsrat zu schimpfen pflegt).

Obwohl wir KMUs in absoluten Zahlen (in der Schweiz rund 600'000, davon der allergrösste Teil unter zehn Personen) in der überwiegenden Mehrheit sind, lassen wir uns immer wieder von den Grossen – den so genannten Corporates – Themen aufs Auge drücken, die wir ohne sie nicht hätten. Themen auch, die – wie beispielsweise Home-Office – etwa für die 160'000 Einzelfirmen unter den KMUs ohnehin kein Problem darstellen. Oder Themen wie die Bonus-Frage. Die Liste liesse sich fortsetzen.

«Wir sollten uns nicht von der Corporatitis anstecken lassen und meinen, wir müssten ein Problem systematisch lösen, das in dieser Form bei uns gar nicht existiert.»

Warum nun das Home-Office-Problem? Zunächst ja mutet es merkwürdig an, wenn Menschen, die gewohnt sind zu sagen, «Ich gehe ins Büro» oder «Ich mache Büroarbeit» plötzlich möglichst eines wollen: nicht ins Büro gehen. Es erinnert mich ein wenig an jenen – sorry für den Ausdruck – doofen Touristen, der eine Pizza con Funghi bestellt, «… aber bitte ohne Pilze».

Eine Schreinerin will schreinern. Ein Schlosser will schlossern. Pilotinnen wollen fliegen. Chirurgen in den OP. Kassierer an die Kasse. Nur Büroleute wollen nicht ins Büro.

Während ich über dies Entwicklung rätsle, befällt mich ein Verdacht: Büro ist nicht gleich Büro. Dort, wo das Büro eine «Werkstatt» für Menschen ist, die eine gemeinsame Aufgabe haben, die Sinn macht und – wenn vielleicht auch nicht jeden Tag – Freude bereitet, dort kommt man mit der eingangs beschriebenen pragmatischen Art des Umgangs mit dem Home-Office-Thema super zurecht. Dort aber, wo das Büro nur noch der geografische Ort mit dem Stromanschluss ist, wo Tastatur-, Bildschirm- und Maus-Bediener Jobs machen, die von Fachleuten auch schon als «Bullshit Jobs» bezeichnet werden, da ist das Home-Office halt einfach die attraktivere Variante. Und in diesen Fällen muss man sich auch nicht wundern, wenn dann ein dickes Reglement erstellt wird, das alle erdenklichen Fälle und Sonderfälle sowie natürlich sämtliche Spezialfälle bis ins Detail regelt.

Die unternehmerischen Gründe, die die Corporates hier hat umdenken lassen, sind – wie wir aus jedem Krimi wissen – Motiv und Gelegenheit: Das Motiv ist das Sparen von Bürofläche, die Gelegenheit ergibt sich durch immer ausgeklügeltere Überwachungssysteme durch die IT, die den Vorgesetzten das Problem der Leistungskontrolle abnehmen.

Beides ist für uns Kleine nicht das Thema. Wir können nicht rasch umziehen und, weil wir dann zwei Schreibtische eingespart haben, hinterher profitabler sein. Und wir ersetzen unsere Führungsaufgabe ganz sicher nicht durch eine IT-Kontrolle.

Deshalb sollten wir uns auch nicht von der Corporatitis anstecken lassen und meinen, wir müssten ein Problem systematisch – oder gar via Gesetzgeber – lösen, das in dieser Form bei uns gar nicht existiert.

«Die Reihenfolge der Überlegungen lautet: Kundenbedürfnis > Aufgabe > Form und Rahmen der Arbeit.»

Was wir müssen, ist, uns auf unsere Aufgabe besinnen und uns fragen, wie die am besten erfüllt werden kann. Wo ist der persönliche Kontakt wichtig? Wo der Ideenaustausch mit Kolleginnen und Kollegen? Wo auch nur der gegenseitig inspirierende «Flow» im Team? Wo dagegen ist es einfacher, etwas zu Hause zu erledigen?

Die Reihenfolge der Überlegungen lautet: Kundenbedürfnis > Aufgabe > Form und Rahmen der Arbeit. Sie lautet nicht: Meine Bedürfnisse > Form und Rahmen der Arbeit > Personalreglement.

Wünscht ein Kunde beispielsweise eine Reiseberatung, ist ein persönliches Gespräch in einer angenehmen Umgebung das A und O. Dazu gehört empathisches Geschick, es ist wichtig, den Kunden «abholen» zu können. Ein Video-Call ist definitiv nicht der beste Weg. Wenn ich aber immer montags Home-Office mache, weil das für mich familiär am besten passt, und daher jeglicher Kundenanfrage an dem Tag nie mit einem persönlichen Gespräch begegnen kann, dann ist die Sache völlig verkehrt. Oder wenn es darum geht, einem Kunden eine Offerte zu unterbreiten, kann es äusserst wertvoll sein, sich beim Morgen-Kaffee unbürokratisch mit anderen im Team austauschen zu können.

Das muss einem als Vorgesetzte oder Vorgesetzten klar sein. Aber es muss auch all unseren Mitarbeitenden klar sein. Denn gerade auch bei ihnen ist die Gefahr gross, vom Virus der Corporatitis infiziert zu werden. Das unverkennbare Symptom, wenn man sich so umhört, ist: Vor lauter Gezerre um Rechte und Pflichten und Reglemente nicht mehr über das nachdenken, was uns in diese Branche und in diese KMUs geführt hat, die Bedürfnisse unserer Kundinnen und Kunden und die Frage, wie wir denen am besten gerecht werden können.

PS: Ich danke an der Stelle meinen Kolleginnen und Kollegen im Team, dass wir bislang so vernünftig mit der Thematik haben umgehen können. Und ich hoffe sehr, dass uns das Virus nicht erwischt.