Karriere

«Fällt Ihnen eigentlich noch auf, wie viel hohles Geschwätz in heutiger Management-Literatur verbreitet und kritiklos nachgeplappert wird?» Cartoon: Silvio Erni

Plattitüden

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Früher gab es Bauern. Und es gab Bauernregeln. Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert das Wetter, oder es bleibt, wie es ist. Wohl eine Plattitüde, zumindest aber unbestreitbar wahr.

Heute gibt es Manager. Zwar gibt es keine Managerregeln, aber wer sich umhört, findet erstaunliche Plattitüden, die unter durchaus meist gut ausgebildeten Führungskräften als «Wahrheit» oder «Richtgrösse» oder «Einsicht» oder «Bekenntnis» herumgereicht werden, ohne dass man sie auch nur zwei Minuten kritisch hinterfragt.

Ein paar Müsterchen gefällig?

  • Bei mir darf jeder einen Fehler machen – bloss nicht zweimal denselben! Zum einen fände ich es nicht so toll, wenn der Chefarzt des Assistenten, der mich operiert hat, mit dieser Weisheit toleriert, dass der mir eine Lunge statt des Blinddarms rausgeschnitten hat. Zum anderen ist es offenkundig, dass wir eben alle immer wieder gerade dieselben Fehler machen. Denn Dinge, die man nach einmal Scheitern nie mehr macht, sind eher Irrtümer als Fehler. Um aus Fehlern zu lernen, müssen wir mühsam daran arbeiten, ungeeignete Muster durch geeignetere zu ersetzen. Das ist meist anstrengend und nur selten das Ergebnis einmaliger Einsicht.
  • Mein grösster Fehler ist meine Ungeduld! Gäbe es einen Übersetzungsdienst für diese Plattitüde, käme auf Deutsch Folgendes heraus: Ich bin ja sooo viel schlauer, stärker und schneller als meine Leute, dass die mir nie und nimmer das Wasser reichen können. Vergeblich hecheln sie mir hinterher, die armen Würstchen. Das macht mich ganz ungeduldig. Aber von dieser Lappalie abgesehen wüsste ich beim besten Willen nicht, wo ich denn sonst noch einen Fehler haben sollte. (Mit Ausnahme einer bis gegen annähernd null ausgedehnten Reflexionsfähigkeit, möchte man ergänzen.)
  • Wir wollen nur die allerbesten Talente! So? Haben Sie denn auch die allerinteressantesten Aufgaben zu bieten? Offerieren Sie die allerbesten Konditionen und Löhne? Ist Ihr Unternehmen wirklich das allertollste? Und sind Sie selbst der allerbeste Chef? – Ganz unwillkürlich erinnert man sich der Frage Willy Brandts in solchen Fällen: «Haben Sies nicht eine Nummer kleiner?» Wärs nicht auch ganz nett, einfach mal Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu haben, die für ihren Job adäquat qualifiziert sind und ihn gerne und gut machen?
  • Es gibt keine Probleme, es gibt nur Herausforderungen! Schön für Sie, falls Sie tatsächlich so einfach gestrickt sind, dass Sie sich mit so einem Blödsinn selbst überlisten können. Aber lassen Sie bitte die Finger davon, andere Menschen – insbesondere Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – auf diese Weise, sorry, zu verarschen. Wer ein echtes Problem hat – das ihn nicht mehr gut schlafen lässt und das er keineswegs als netten sportlichen Challenge sieht –, soll nicht auch noch frei nach Erich Kästner genötigt werden, den Kakao zu trinken, durch den man ihn zieht.

Weitere schöne Beispiele

  • Man kann alles erreichen, wenn man nur wirklich will! Tja, das könnte ja noch sein. Zumindest tendenziell, denn ein eiserner Wille kann in der Tat viel bewirken. Nur taugt diese Erfahrung dennoch nicht als Ratschlag, da man nun einfach nicht «wollen wollen» kann. Jemandem, der scheitert, zu unterstellen, er wolle eben nur zu wenig, ist also zynisch. Abgesehen da- von, dass ich daran zweifle, dass es nur das Wollen ist, das die meisten von uns daran hindert, Nobelpreisträger, Tennischampion oder Hollywoodstar zu werden.
  • Jeder bei uns muss unternehmerisch denken und handeln. Jeder? Ich bin, das gebe ich zu, schon ganz glücklich, wenn diese Anforderung wenigstens alle GL-Mitglieder einer Firma erfüllen. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können mit dem ihnen zustehenden Handlungsspielraum und der ihnen zugestandenen Verantwortung hinten und vorne nicht unternehmerisch tätig werden. Schön ist zweifellos, wenn sie alle überhaupt denken und erst dann handeln. Aber auch wenn – dann tun sie das in aller Regel nicht als Unternehmer (sonst wären sie nämlich welche) und noch nicht einmal immer nur im Sinne des Unternehmens (denn dafür bräuchten sie gar nicht zu denken, gehorchen würde genügen). Es ist schon eine Führungsaufgabe, den unternehmerischen Sinn so klar zu verdeutlichen, dass die Leute davon überzeugt sind und ihr Handeln mehrheitlich danach ausrichten. Mit einem blossen moralischen Appell wird man diese Führungsaufgabe nicht los.
  • Wir sitzen alle im gleichen Boot. Ganz bestimmt. Aber haben wir auch alle die gleiche Klasse gebucht? Hat es für alle die gleichen Rettungsboote? Legen sich wirklich alle in die Riemen? Sitzen wir auch dann noch im gleichen Boot, wenn es hart auf hart geht? Und haben wir auch alle die gleichen Parkplätze?
  • Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt. Und damit immer im Wege, sagen die Zyniker und formulieren um: Bei uns ist der Mensch Mittel. Punkt. – Ein schönes Beispiel dafür, wie so manche markige Managerweisheit bei ihren Adressaten tatsächlich gehört/gelesen wird.

Stichelei, Übertreibung oder Wahrheit?

Sie können jetzt natürlich einwenden, meine Argumentation sei etwas gar pingelig, denn in jedem der zitierten Sätze stecke doch auch ein Körnchen Wahrheit. Zweifelsohne! Nur gilt das auch für Sätze wie «Die Erde ist flach.» oder «Eins und eins gleich drei.» oder «Männer sind unsensibel.» Aber das trifft nicht den Punkt. Der Punkt hier ist, dass die oben zitierten Manager-Weisheiten von Menschen in einer formalen Position geäussert werden: Vorgesetzten eben. Damit sind derartige Sprüche immer mehr als bloss irgendeine Meinung. Es gibt ja bei Führungskräften nicht wie beim Papst die Regel, dass Aussagen nur dann als unfehlbar gelten, wenn sie ex cathedra gesprochen wurden.

Man kann sich bei Führungskräften nie darauf verlassen, ob sie ihre «Weisheiten» nur als kleine Stichelei respektive als rhetorische Übertreibung oder aber als Wahrheit verstehen. Und da man ihnen – aus genau diesem Grund – deshalb tendenziell eher nicht widerspricht, driften sie wiederum leicht dazu, ihre eigenen markigen Worte mit der Zeit auch noch selbst zu glauben. Der Schaden von solch unreflektierten Plattitüden – so sie aus dem Mund eines Vorgesetzten kommen – liegt wie meist in der Umgebung: Gehen Sie doch bitte noch einmal die oben zitierten Äusserungen durch und fragen Sie sich, welche mehr schlecht als recht versteckte hintergründige Botschaft Sie vernehmen würden, wenn das Gesagte von Ihrem Boss käme und Sie annehmen müssten, es sei ernst gemeint!

Unerfreulich, nicht wahr?

Tun Sie mir einen Gefallen: Kriegen Sie bitte auf offener Szene einen Schreianfall, falls Ihr Chef irgendeine der genannten Plattitüden von sich gibt. Und bitte verschlucken Sie sich auf der Stelle ganz fürchterlich, bevor Sie selbst so etwas von sich geben. Danke.