Karriere

«Wo Vernunft mit und gegen Vernunft argumentiert, da haben auch Bauchentscheide einen guten Platz. Man muss sie nur hinterfragen dürfen.» Cartoon: Silvio Erni

Bauchentscheid

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Wenn Entscheiden tatsächlich eine zentrale Aufgabe von Führungskräften ist, so wäre es doch angebracht zu wissen, wie man möglichst gute Entscheide fällt. Noch vor wenigen Jahren hätte man betont, entscheidend (!) beim Entscheiden sei die Rationalität. Nur Vernunft solle zählen, Gefühle hätten aussen vor zu bleiben. Schon in einem früheren Führungsbrief wurde gezeigt, dass dies eine unhaltbare Forderung ist, da man ohne Emotionen und Gefühle überhaupt nicht entscheiden kann.

Heute hat der Wind der Mode gedreht und man (nicht selten frau) fordert, es gehe darum, auf seinen Bauch zu hören, denn nur die Bauchentscheide seien die wahrhaft guten und stimmigen.

Was ist da dran?

Psychologie wie auch Hirnforschung haben in den letzten Jahren viel darüber geforscht, und nach ihren Erkenntnissen gilt es zu differenzieren:

  • Bauchentscheide sind Vernunftentscheiden keineswegs generell überlegen. Umgekehrt aber auch nicht.
  • Die Qualität von Bauentscheiden hängt nicht von der Komplexität des Problems ab, während die Qualität von Vernunftentscheiden mit zunehmender Komplexität der zu entscheidenden Frage leider abnimmt.
  • Alle nicht besonders wichtigen und nicht so grossen respektive komplexen Entscheide sollten durch bewusstes und vernünftiges Abwägen von Vor- und Nachteilen der Alternativen getroffen werden. Bauchentscheide wären hier schlechter.
  • Nur bei wirklich grossen Entscheiden lohnt es sich, besonders gut auf seinen «Bauch» zu hören. Trotzdem sind es aber gerade die grossen Entscheide im Leben, die wir letztlich inkompetent fällen: Berufswahl, Heirat, Kinderfrage und so weiter. Wenn uns jedoch unser Unbewusstes da ein gutes Bauchgefühl beschert, so ist das zumindest besser als im Falle des Gegenteils. Denn tatsächlich deuten schlechte Bauchgefühle in solchen komplexen Fällen darauf hin, dass wir in unserem Bewusstsein etwas Wichtiges übersehen haben.
  • Bauchentscheide sind aber nur dann gut, wenn die Vernunft vorher die wichtigsten Fakten und Informationen, die als Entscheidungsgrundlage wichtig sind, zur Kenntnis genommen hat – und danach (da hat der Volksmund völlig recht) eine Nacht darüber geschlafen hat.
  • In Sachfragen treffen jene Leute die besten Bauchentscheide, die die grösste fachliche Erfahrung besitzen. Auch wenn sie gar nicht so klar begründen können, wie sie zu einem Entscheid gekommen sind. Das gilt sowohl für blitzschnell, fast reflexartig zu entscheidende kleine Fragen wie auch für grosse, komplexe Fragen.
  • Vernunft baut auf die Präzision des bewussten Denkens (hat aber eine recht geringe Verarbeitungskapazität), während Bauchentscheide weniger präzise sind, jedoch auf die enorm viel grössere Kapazität des unbewussten Denkens setzen können und somit mehr Aspekte einbeziehen.

Die betriebliche Realität

Derartige Erkenntnisse gelten indes nur für das individuelle Entscheiden. Im Gegensatz zu der Karikatur eines alles im Alleingang entscheidenden Mana- gers sieht die betriebliche Realität aber eher so aus, dass Entscheide gar nicht wirklich getroffen werden, sondern als Ergebnis eines nicht immer klaren kollektiven Prozesses «irgendwie» fallen. Und hier sieht die Sache häufig anders aus. Da geht es nicht mehr um Vernunft versus Bauch, sondern um Gruppendynamik – wobei freilich sowohl vernünftige Argumentation wie auch Bauchgefühl ganz nach Bedarf als Waffen benutzt werden.

In den Sechzigerjahren gerieten die Amerikaner in den Schlamassel der Schweinebuchtinvasion auf Kuba. Viele Jahre später wurde der damalige unselige Entscheid der Kennedy-Regierung sozialpsychologisch untersucht. Es zeigte sich, dass jedes einzelne Kabinettsmitglied gegen den Plan gewesen war, aber alle dafür gestimmt hatten, weil keiner plötzlich als unpatriotisch dastehen wollte.

Es ist also unsere befürchtete oder erhoffte Position im betrieblichen Umfeld, die unsere Entscheide vielleicht mehr beeinflusst als die jeweilige Sachfrage. Und in diesem «innerlichen Verrechnungsprozess» dürften Bauchentscheide (die ja «automatisch» immer mitspielen) tendenziell eher opportunistisch ausfallen. Aber auch Vernunftentscheide sind in diesen Fällen nicht viel besser, da die Vernunft häufig nur das intellektuelle Deckmäntelchen für den opportunistischen Bauchentscheid liefert. Und wenn Sie sich jetzt zu Unrecht angegriffen fühlen sollten, so muss ich Ihnen leider sagen, dass dieser «innere Verrechnungsprozess» nicht dazu führt, dass Sie andere über Ihre Motive belügen würden, sondern dass Ihr Unbewusstes bereits Ihr Bewusstsein belügt. Denn oberstes Ziel unserer Psyche ist es, von uns ein gutes Selbstbild zu produzieren.

Hinterfragung von Argumenten

Ausschlaggebend bei kollektiven Entscheidungsprozessen ist daher weniger die Vernunft-/Bauchfrage, sondern der Prozess der Hinterfragung von Argumenten (egal ob sie der Vernunft oder einzelnen Bäuchen entstammen).

Was im Change Management so abschätzig als Widerstand disqualifiziert und als Zeichen ewiggestrigen Denkens abgeurteilt wird, ist also womöglich das Werkzeug auf dem Weg zu guten Entscheiden. Dass es Zeit kostet, ist ein nicht vermeidbarer Preis. Falls Sie Dr. House kennen: Der Mann ist deshalb als Arzt ein unschlagbar guter Diagnostiker, weil er sich ein Team hält, das ihn gnadenlos hinterfragen muss. Erst im Kampf mit diesem Widerstand findet er zu seinen besten Entscheiden.

Auf der individuellen Ebene dürften Bauchentscheide im betrieblichen Umfeld vergleichsweise wenig angesagt sein, da heutzutage nicht mehr so vieles individuell entschieden wird, was komplex ist. Ausnahme sind wahrscheinlich Anstellungsentscheide, und da lohnt es sich bestimmt, (auch) auf den Bauch zu hören.

Auf der kollektiven Ebene aber liesse sich die Stärke von Bauchentscheiden jedoch nutzen, wenn sie eingebettet wären in eine Kultur harter argumentativer Auseinandersetzung. Nur dürfte dann das Spiel nicht so laufen, dass man diskreditiert, wer nur aus dem Bauch heraus argumentiert, sondern dass man gemeinsam heftig darüber streitet, was denn die Gründe für solche guten oder aber schlechten Bauchgefühle sein könnten.

Vernunft gegen Vernunft – auf der Basis von Fakten und Bauch. Das ist eine hervorragende Regel für gute kollektive Entscheide.