Karriere

«Gewisse Dinge lassen sich nur bewegen, wenn alle Kräfte durch lautes ‚Hauruck‘-Schreien koordiniert werden. Ein Karren im Dreck etwa.» Cartoon: Silvio Erni

Hauruck

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Ich glaube, dass wir seit jeher etwas falsch machen in der Führungsentwicklung. Meines Erachtens müssten wir zwei komplett verschiedene Dinge, die wir bislang immer durcheinanderbringen, sauber unterscheiden:

Das eine ist das Arbeiten an individuellen Themen: Persönliche Schwierigkeiten oder Defizite oder Schwächen, konkrete Probleme im Team oder mit dem eigenen Chef, Hilfe bei neuen Herausforderungen, Reflektieren des eigenen Führungsselbstverständnisses, ganz einfach Neues für die eigene Führung lernen wollen und so weiter. Dafür ist gut geeignet, was wir kennen und praktizieren: etwa innerbetriebliche Workshops, Seminare, Coachings, Teamentwicklungen. Dazu gelegentlich ausserbetriebliche Weiterbildungen. Davon sei im Weiteren hier jedoch nicht mehr die Rede.

Meetingitis und so

Das andere ist das Arbeiten an kollektiven Themen. Das sollten wir nicht (mehr) in den Gefässen für die individuellen Themen abhandeln, denn das wäre (ist!) vergebliche Liebesmüh. Lassen Sie mich illustrieren, was das zum Beispiel für Themen sind und warum sie nicht individuell bearbeitbar sind:

  • Meetingitis: Wenn eine Führungskraft im Coaching oder im Führungsentwicklungs-Workshop sagt, sie wolle nun endlich etwas gegen die viel zu vielen Meetings unternehmen, dann ist das verständlich und löblich – aber vergebens. Denn nur wenn alle anderen Führungskräfte am selben Strick ziehen würden, käme es zu einer Besserung. Wenn die Führungskraft ganz allein beginnt, sich gewissen Meetings zu verweigern, wird sie nur isoliert – und wird daher bald darauf zum ursprünglich beklagten Zustand zurückkehren.
  • E-Mailitis: Setzen Sie einfach in den letzten Abschnitt statt «Meetings» «E-Mails» ein. Die Logik bleibt sich gleich.
  • Konfliktkultur: Wer sich individuell daran stört, dass man in der bestehenden Unternehmenskultur zu wenig konfliktfähig ist, und deshalb anfängt, Konflikte offener und aktiver anzugehen, der wird in kürzester Zeit vom «Organismus» der Unternehmenskultur als unverträglich abgestossen. Bis er sich wieder ans alte Muster hält oder bis er geht.
  • Kommunikationskultur: Setzen Sie einfach in den letzten Abschnitt statt «Konflikt» «Kommunikation» ein. Die Logik bleibt sich gleich.
  • Kundenorientierung: Sie können es in jedem Restaurant beobachten, das Personal ist fast immer recht einheitlich freundlich oder aber unfreundlich zu den Gästen. Als einziger Kellner in einem Team von äusserst kundenorientierten Serviceangestellten ständig unfreundlich zu sein, geht einfach nicht auf Dauer. Und umgekehrt. In der Art, wie man mit Kunden umgeht, passen sich die Leute gegenseitig an.

Auf die Sprünge helfen

Die Liste liesse sich fortsetzen. Gewisse Themen sind einfach so geartet, dass sich die individuellen Verhaltensweisen nivellieren. Wie bei den kommunizierenden Röhren, die wir im Physikunterricht kennenlernten. In einer einzelnen dieser Röhren kann das Wasser ganz kurz mal höher oder tiefer stehen, aber in kürzester Zeit sind die Spiegel alle exakt gleich hoch.

Sie könnten natürlich einwenden, dass jeder mit genügend Zivilcourage sich eben gerade dadurch profilieren könne, dass er sich anders als die anderen verhalte. Schliesslich folgt er ja nicht einfach physikalischen Gesetzen. Das mag sein. Es ist aber selten, und es braucht enorm viel Kraft. Zu viel Kraft. Zudem hat es den Nachteil, dass dann das eigentlich bessere Verhalten im Unternehmen als «Abweichung» dasteht (wie beim Streber in der Schule), womit das schlechtere Verhalten der Mehrheit erst recht gefestigt wird.

Was tun bei diesen kollektiven Themen? Es liegt auf der Hand, dass wir sie eben nicht mehr individuell, sondern kollektiv behandeln sollten. Sie werden aber nicht «von alleine» kollektiv zum gleichen Zeitpunkt allen bewusst, und deshalb muss man einen Prozess oder Rhythmus etablieren, der der Sache auf die Sprünge hilft. Dafür muss natürlich zunächst das hier behandelte Thema verstanden werden, sodass der nachfolgend skizzierte Prozess/Rhythmus begründet etabliert und kommuniziert werden kann. Dieser Prozess dient dem «Hauruck»-Effekt, den man braucht, wenn ein paar Leute gemeinsam einen Karren aus dem Dreck ziehen wollen. Nur wenn die Kräfte durch lautes «Hauruck»-Schreien koordiniert werden, summieren sie sich und reichen aus. Ohne «Hauruck» verpufft jede einzelne Anstrengung.

Im Dreijahresrhythmus

Ich stelle mir den Prozess als einen wiederkehrenden Dreijahresrhythmus vor:

  • Im ersten Jahr finden unter Einbezug aller Führungskräfte diagnostische Workshops statt. Darin werden auf der Basis vorhandener Daten – zum Beispiel Mitarbeiterzufriedenheitsumfragen oder Kundenbefragungen oder 360°-Feedbackauswertungen oder Ähnliches – sehr wenige kollektive Themen identifiziert. Wenn es solche Daten nicht gibt, dürfte es nicht allzu schwer sein, in diesen Workshops auf eine methodisch geeignete Weise direkt die Erfahrung der Teilnehmer anzuzapfen. Pro Führungskraft dürfte das in beiden Fällen ungefähr einen halben Tag kosten. So viel Aufwand ist nicht etwa nötig, um den Bedarf zu identifizieren (den kennt vielleicht ja schon der oberste Boss – oder sowieso fast jeder), sondern um die aktive Behandlung dieses Problems zu einem echten gemeinsamen Bedürfnis werden zu lassen. Diese Workshops sollten heterogen sein, das heisst, die Teilnehmer sollten jeweils quer aus dem ganzen Unternehmen kommen.
  • Nach diesen flächendeckenden Workshops müsste die Geschäftsleitung aufgrund einer geeigneten Auswertung sämtlicher Workshops beschliessen, welche Themen (maximal drei!) denn nun kollektiv zu behandeln seien. Zu diesen Themen wird damit sozusagen «Hau- ruck» gerufen!
  • Kurz darauf müssten nochmals Halbtages-Workshops unter Einbezug sämtlicher Führungskräfte stattfinden. Diesmal aber homogen – das heisst, es sind diejenigen Führungskräfte zusammen, die organisatorisch zusammengehören. Diesmal wird nun konkretisiert, wo genau sich das Thema oder die Themen im eigenen Bereich manifestieren und was denn nun an Massnahmen zu ergreifen sei. Diese Massnahmen sind dann einzuleiten. Aufs «Hauruck» folgt nun das gemeinsame Ziehen.
  • Das zweite Jahr dient der praktischen Erprobung der Massnahmen. Sie werden im Führungsalltag praktiziert und gemeinsam periodisch überprüft und gegebenenfalls korrigiert oder frisch belebt. Ziel ist, dass ein neues Verhalten in den angesprochenen Themen zur gemeinsamen Normalität und Selbstverständlichkeit wird. Dies muss von oben mit grosser Verbindlichkeit eingefordert (und vorgelebt!) werden.
  • Im dritten Jahr findet auf dieser kollektiven Schiene rein gar nichts statt! So wie früher die Bauern Felder alle paar Jahre brachliegen liessen, um sie sich erholen zu lassen, so muss man einer Unternehmenskultur auch Zeit zur Erholung lassen. Ständig daran rumzuwerkeln, macht nur alle Beteiligten müde.

Nach diesem Jahr Pause (in dem individuell aber durchaus das Übliche – Coachings, persönliche Weiterbildungen und so weiter – laufen kann), würde der Dreijahresrhythmus wieder starten.

Zu achten ist darauf, dass nicht nur das Programm des jeweils dritten Jahres konsequent durchgeführt wird.