Karriere

«Kategorisierung ist schlecht. Warum gibt es nur zwei Sorten von Menschen – die, die Menschen schubladisieren, und die, die das nicht tun?» Cartoon: Silvio Erni

Schubladen

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

«Es gibt solche und solche. Aber mehr solche als solche.» So sagt es ein Sponti-Spruch, an irgendeine Wand gekritzelt. Er könnte auch an der Wand des Büros von Führungskräften stehen, die eben begeistert aus einem Seminar zurückgekommen und «alles» über die menschliche Persönlichkeit gelernt haben. Testverfahren inbegriffen.

Nun wissen sie: Es gibt Blaue und Grüne und Gelbe und Rote, und dass der Meier mit dem Müller nicht kann, ist völlig klar, wenn man erst einmal weiss, dass dieser ein Grüner und jener ein Roter ist. Wahlweise kann anstatt einer solchen Vierfruchtkonfitüre auch ein System von einzelnen Buchstaben stehen, aus denen der Eingeweihte dann alles Nötige ersehen kann, zum Beispiel ENBT oder so. Ich will ja keine Schadenersatzklage am Hals haben, deshalb verzichte ich hier darauf, die Namen dieser «wissenschaftlichen» Tests zu nennen, die sich offenbar grösster Beliebtheit im Management erfreuen.

Finger weg!

Lassen Sie es mich klar sagen: Auch wenn es selbstredend zu Ihren Aufgaben als Führungskraft gehört, Menschen einschätzen und beurteilen zu können – Tests zur Messung der Persönlichkeit sind Sache von ausgebildeten Psychologen. Und zwar solchen, die sich darauf spezialisiert haben und erfahren sind. Für alle anderen – insbesondere alle Nicht-Psychologen – gilt: Finger weg!

Ich will Sie hier nicht damit langweilen, dass und warum die fürs Management popularisierten Verfahren häufig völlig untauglich sind. Ich will auch nicht über die «Kollegen» herziehen, die damit ihr (Ihr!) Geld verdienen. Mich interessiert hier vielmehr, warum in Sachen Persönlichkeitsdiagnostik so viele Führungskräfte offenkundig auch mit dem grössten Hokuspokus zufrieden sind. Und Hokuspokus ist es nun mal, wenn man die Vielfalt menschlicher Persönlichkeiten auf eine Handvoll Schubladen respektive Etiketten reduziert und die damit zugeschriebenen Eigenschaften auch noch für unveränderlich hält. Das sind meine Hypothesen über diese Unaufgeklärtheit:

  • Schubladen, in denen man etwas ablegen und versorgen kann, sind sehr bequem, denn damit wird man es gewissermassen los. Das gilt freilich auch dann, wenn man etwas in die falsche Schublade gelegt hat.
  • Schubladen reduzieren Komplexität. Man kann etwas immer nur in die eine oder die andere Schublade legen. Das macht manches einfacher.
  • Mehr als vier Schubladen sind anstrengend zu merken. Dem kommen all diese «Vier-Farben-(oder Buchstaben)-Persönlichkeitslehren» auf freundliche Weise entgegen. Etiketten haben Voodoo-Kräfte: Etwas benennen zu können vermittelt die Illusion, es zu beherrschen. Das ist der Rumpelstilzchen-Mythos.
  • Das Attribut «wissenschaftlicher Test», das sich viele dieser Trivialmethoden ungeniert umhängen, erlaubt das Gefühl, auf sicherem Boden zu stehen und mehr zu wissen als andere.

«Mössiös» und «Gumpis»

Hand aufs Herz: Glauben Sie wirklich, vier (von mir aus auch sechzehn) Persönlichkeits-«Typen» seien ausreichend, um die Vielfalt menschlicher Persönlichkeiten zu beschreiben? Oder umgekehrt gefragt: Wären Ihnen lediglich zwei zu wenig, obwohl Sie mit vier dann durchaus zufrieden sind?

Zwei Schubladen reichen ja weit! Als ich gerade den Eintritt in die Pubertät suchte und mein Bruder bereits den Austritt daraus, erklärte er mir, es gäbe zwei Typen von Menschen: «Mössiös» und «Gumpis». Die wenigen, die zu den Mössiös zählten, kamen draus. Die vielen anderen, die Gumpis, nicht. Reicht doch eigentlich auch als Persönlichkeitstheorie, oder etwa nicht?

Die schreckliche Vereinfachung, auf welche die meisten dieser Hobby-Persönlichkeitstheorien bauen, ist zwar ebenso dumm wie ärgerlich, aber nicht das eigentliche Problem. Das eigentliche Problem liegt in den Folgen für die Beziehungsgestaltung, die das Kernstück jeglicher Führung bildet:

Wer Menschen klassifiziert – es dürfen auch astrologische Sternzeichen oder Kantonszugehörigkeiten oder ganz einfach das Geschlecht sein –, der gestaltet seine Beziehung nicht mehr zu den jeweiligen Menschen respektive Persönlichkeiten, sondern zu dem Typus, mit dem er diese Menschen etikettiert hat. Da er «weiss», wie diese Menschen sind und funktionieren, behandelt er sie entsprechend. Treten sie faktisch aber anders auf als erwartet, so ist das entweder die Ausnahme, welche die Regel bestätigt, oder es ist kein authentisches Verhalten – was dieser Person natürlich postwendend anzukreiden ist.

All dies führt dazu, dass man nicht mehr wirklich hinschaut und hinhört. Man ist nicht mehr bereit, darauf zu achten, was jemanden bewegen könnte, das zu tun oder zu lassen, was er tut oder lässt. Denn man sieht nur noch das, was man eh schon «weiss».

Unwissenschaftlicher Hokuspokus

Natürlich muss auch schubladisieren und klassifizieren, wer ganz genau hinschaut und hinhört. Aber er beschriftet seine Schubladen erst in dem Moment und nur für diese Situation. Er ist offen dafür, dass ein Mensch morgen andere Facetten zeigen kann als heute. Und er schliesst nicht vom einmal beobachteten Verhalten auf jedes weitere.

Für Führungskräfte ist es matchentscheidend, Menschen gut einschätzen zu können. Man muss die verschiedenen Seiten eines Menschen in verschiedenen Situationen wahrnehmen können. Nicht nur, um ihn zu verstehen. Sondern vor allem, um mit ihm adäquat interagieren zu können. Warum ist ein Roman spannender, wenn seine Figuren genauer gezeichnet sind als etwa in früheren Western, wo die Bösen allesamt schlechte Zähne hatten, sodass sie unschwer zu erkennen waren? Weil wir selbst auch nicht nur entweder gut oder böse sind. Weil wir um unsere eigene Vielfalt wissen und andere Menschen nur dann begreifen können, wenn wir sie ebenfalls differenziert beurteilen. Wissenschaftlichkeit ist dafür im Alltag weder möglich noch sinnvoll. Unwissenschaftlicher Hokuspokus freilich ist dennoch keine Alternative, sondern ist unseriös. Was Sie brauchen, ist eine gute Beobachtungsgabe und eine gehörige Portion Offenheit gegenüber anderen.

Als Führungskraft wollen und müssen Sie Menschen auch beeinflussen. Wenn Ihre Kenntnis dieser Menschen auf fragwürdigem Fundament steht, wird Ihre Beeinflussung bloss holzhammermässig möglich sein.

Es wäre schade, wenn Sie sich selbst der Möglichkeiten berauben würden, die sich ergeben, wenn Sie gelernt haben, Menschen achtsam und mit Gespür, genau und differenziert wahrzunehmen – und zwar jeden Tag neu, damit Sie nicht auf Ihre falsche Schubladisierung von gestern hereinfallen.