Karriere

«Vorurteile machen stabil. Verzicht darauf fördert Neugier, Angstfreiheit, Offenheit, Intelligenz, Selbstsicherheit. Auch nicht schlecht.» Cartoon: Silvio Erni

Vorurteile

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Bevor ich, wie Sie das sicherlich erwarten, hier deutsch und deutlich gegen Vorurteile zu Felde ziehe, muss ich – leider – das Hohe Lied der Vorurteile singen.

Die Psychologen wissen es schon längst, und die Hirnforscher liefern derzeit fast täglich neue Belege dafür: Die grossen Leistungen unseres Gehirns in Sachen Wahrnehmung und Urteilsvermögen entstehen allesamt auf der Basis von Vorurteilen. Unsere Psyche (oder unser Gehirn, was immer Sie lieber mögen) «weiss» immer schon im Voraus, was sie zu erwarten hat. Wenn die Sache dann eintritt, braucht sie nur noch einen kurzen Bestätigungscheck: «Siehste, wusst’ ich’s doch!»

Das ist ungeheuer effizient, macht uns schnell und spart Energie. Es ist die Form, Erfahrungswissen überhaupt nutzbar zu machen. Stellen Sie sich vor, wir würden das nicht nutzen: Sie müssten bei jedem Stuhl zuerst prüfen, ob er Ihr Gewicht trägt.

Zudem haben Vorurteile auch Vorteile: Etwa wenn Sie aufgrund Ihrer Vorurteile in bestimmten Städten nachts nicht allein herumlaufen – obwohl auch da die Verallgemeinerung wohl kaum stimmt, dass Ihnen lauter Bösewichte begegnen würden. Dennoch bleiben Sie so auf der sicheren Seite. Dass Sie damit gleichzeitig vielleicht nette Erfahrungen ausschliessen, lässt sich verkraften.

Lieb gewonnene Vorurteile

Natürlich ist mir klar, dass Sie unter Vorurteilen nicht die Tatsache verstehen, dass wir aufgrund unseres Erfahrungswissens mindestens hierzulande annehmen, dass ein Stuhl stabil ist oder dass Sie bestimmte Stadtteile besser meiden sollten. Sie denken an Vorurteile von der Art «Männer sind rational» oder «Frauen sind sensibler» oder «Deutsche sind pingelig» oder «Blondinen sind dumm» (bitte setzen Sie hier ein, was Sie am meisten nervt).

Wichtig ist aber zu erkennen, dass es dieselben hoch effizienten psychologischen Mechanismen sind, die hier spielen, wie beim Stuhl und seiner erwarteten Stabilität. Das heisst, es ist nicht der Meccano der Vorurteile, der problematisch ist, sondern unsere Unbelehrbarkeit bezüglich lieb gewonnener Vorurteile.

Keiner von uns hat ein Problem damit, ein Vorurteil zu verwerfen, wenn es einfach auf einer irrtümlichen Annahme beruht und berichtigt werden kann. Spätestens, wenn uns eine kluge Blondine dann doch ihr Herz geschenkt hat.

An lieb gewordenen Vorurteilen aber halten wir beharrlich fest.

Bekanntlich hat alles seinen Preis. Der Preis fürs Festhalten an lieb gewordenen Vorurteilen ist das Verschenken von Optionen. Wir verschenken uns die Möglichkeit,

  • Menschen und persönliche Facetten an ihnen immer wieder neu zu entdecken,
  • Meinungen und Entscheide aus einer anderen Optik zu beleuchten und
  • Zukunft unbelastet von Vergangenheit neu gestalten zu können.

Ist das nicht ein etwas teurer Preis? Vor allem für Sie als Führungskräfte, die Menschen treffend beurteilen können sollten, die täglich Entscheide treffen müssen und die die Zukunft von Unternehmen (mit-)gestalten wollen? Vor allem, da auf der anderen Seite Ihrer Bilanz nur gerade ein kleinwenig Zeitgewinn steht: Sie müssen ja weniger denken, wenn Sie aufgrund Ihrer Vorurteile das Resultat immer schon im Voraus kennen.

Wir brauchen Neugier

Gleichzeitig sind aber die Zutaten im Rezept gegen unsere Vorurteile auch nicht gerade eine Selbstverständlichkeit:

  • Wir brauchen Neugier. Wir müssen einfach Lust darauf haben, Dinge zu sehen und zu erfahren, die wir noch nicht kennen. Ohne die Gewähr, dass uns dieses Wissen etwas nützt.
  • Wir dürfen keine Angst haben. Wir brauchen die Gelassenheit, Dinge auch dann erfahren zu wollen, wenn sie hinterher unsere Entscheide verkomplizieren. Zum Beispiel einfach dadurch, dass wir sie noch einmal überdenken müssen.
  • Wir brauchen Offenheit. Nur wenn wir uns bewusst sind, dass unser ganzes Denken stark von Vorurteilen durchzogen ist, sind wir fähig, die Frage zu stellen, ob etwas denn nicht auch ganz anders sein könnte, als es uns zunächst erscheint. Dabei gilt es zu bedenken, dass sich Vorurteile nicht wie Vorurteile «anfühlen». In unserem Kopf erscheinen sie uns eher als Gewissheiten. Offenheit ist kein Problem, solange sich mir Fragen stellen. Offenheit ist erst ein Problem, wenn ich schon alle Antworten zu kennen glaube.
  • Wir brauchen Intelligenz. Das mag arrogant klingen. Aber es sind nicht die gescheiten Antworten, die ein Zeichen von Intelligenz sind. Es sind die klugen Fragen. Und die wiederum sind der erste Schritt beim Abbauen von Vorurteilen.
  • Und nicht zuletzt brauchen wir Selbstsicherheit. Wer eine vermeintliche Gewissheit als sein eigenes Vorurteil entlarvt hat, muss selbstsicher genug sein, um seinen Fehler eingestehen zu können, ohne Angst davor zu haben, damit sein Gesicht zu verlieren.

Gehen Sie über die Bücher!

Wie gesagt, die Ingredienzien zu unserem Anti-Vorurteile-Rezept sind nicht ohne. Schön dabei ist aber, dass man sie verzinst bekommt: Wer sich aktiv mit seinen Vorurteilen auseinandersetzt, der gewinnt an Neugier, Angstfreiheit, Offenheit, Intelligenz und Selbstsicherheit. Kämen da noch Schönheit und Fitness dazu, wäre es glatt eine Wunderdroge!

Gehen Sie jeden Tag einmal über die Bücher und suchen Sie nach einem eigenen Vorurteil. Sie finden leicht eines in dem grossen Schrank, in dem Sie Ihre Gewissheiten aufbewahren. Suchen Sie gezielt danach, ob Sie die entsprechende Sache nicht auch anders sehen/denken/beurteilen/handhaben könnten. Begegnen Sie Ihren relevanten Mitmenschen entsprechend, ihrer Lebenspartnerin oder ihrem Lebenspartner, ihren Kindern vielleicht, ihrer Chefin, ihren Mitarbeitern, ihrem bestgehassten Feind.

Ihre Neugier, Angstfreiheit, Offenheit, Intelligenz und Selbstsicherheit vorausgesetzt, werden Sie überraschende, interessante und alle Beteiligten weiterbringende Entdeckungen machen.

Wie sollte jemand erfolgreich den unternehmerischen Wandel bewältigen, wenn er alle und alles in die Schublade seiner gewohnten und geliebten Vorurteile steckt? Unser Gehirn setzt ja nur deshalb so sehr auf Vorurteile, weil es in einer Zeit gebaut wurde, als die Welt vergleichsweise stabil war. Das ist sie nun wirklich nicht mehr. Da kann es nur klug sein, dem eigenen (Vor-) Urteilsvermögen stets mit einem klitzekleinen Misstrauen zu begegnen. Und nicht nur, weil die Stabilität unseres Stuhls ja auch hierzulande zweifelhaft sein kann – etwa nachdem unser bester Kollege daran gesägt hat. Sondern auch deshalb, weil es mitunter der «unfähigste» Mitarbeiter ist, auf dessen Idee wir vielleicht besser gehört hätten.