Karriere

«Unterscheiden, was Ihre Sache ist und was das Problem anderer Leute, ist hohe Kunst. Viele sind besser darin, dies laufend zu verwechseln.» Cartoon: Silvio Erni

Aaneluege (Hinschauen)

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Lernen Sie sorgfältig zu unterscheiden zwischen PAL und MS! Ein PAL ist ein Problem Anderer Leute. MS ist Meine Sache. Der Umgang der meisten Menschen mit diesen zwei grundverschiedenen Sachen ist interessant:

  • Da ist zunächst unsere Neigung, Dinge, die wir nicht sehen wollen, nicht erwartet haben oder nicht erklären können, einfach zum Problem anderer Leute zu erklären. Diese Neigung ist so stark, dass sie (zumindest im Science-Fiction-Kultbuch «Per Anhalter durch die Galaxis» von Douglas Adams) die Schaffung von PAL-Feldern gestattet, in denen man im ganzen Universum unbemerkt riesige Raumschiffe parken und tarnen kann – eben, weil nie einer hinschaut.
  • Weiter gibt es gleichzeitig die Tendenz, Dinge, die ganz objektiv ein PAL sind, zur eigenen Sache zu machen. Sei es, dass jeder auf der Zuschauertribüne besser als jeder Spieler auf dem Feld weiss, wie man spielen müsste. Oder sei es, wenn Führungskräfte sich bis ins Detail überlegen, was ihr Kollege (um nicht zu sagen Karrierekonkurrent) aus der anderen Abteilung besser machen sollte.
  • Nicht wenige Menschen haben überdies die Tendenz, sich jeden Affen auf die Schulter setzen zu lassen. Sie kennen sozusagen nur MS. Wenn Führungskräfte dazu neigen und dann noch Mitarbeiter haben, die aus Bequemlichkeit oder wegen Unselbstständigkeit in jeder Sache nur ein PAL sehen – dann gute Nacht!
  • Vereinzelt aber wurde durchaus auch schon beobachtet, dass Menschen tatsächlich zwischen PAL und MS unterscheiden können, sich wirklich um ihren Kram kümmern und anderen überlassen, was deren Sache ist.

Nicht wegschauen

Gute Führungskräfte zeichnen sich dadurch aus, dass sie zur letztgenannten Sorte Menschen gehören. Dahinter steht aber viel Anstrengung, denn die richtige Unterscheidung zwischen PAL und MS ist im richtigen Leben eine wahrlich verzwickte Sache:

Wenn zum Beispiel meine Mitarbeiter zu wenig Leistung bringen und/oder nicht motiviert sind, ist das meine oder ihre Sache? Wenn eine mir unterstellte Führungskraft schlecht oder kaum führt und ihre Mitarbeiter darunter leiden, ist das meine oder deren Sache? Vielleicht müssen wir erkennen, dass eine Sache nicht immer eine Sache ist. Sie spaltet sich vielmehr auf in Anteile verschiedener Parteien. Und dann würde es darum gehen zu erkennen oder klar zu machen, dass dies mein Anteil und jenes dein/sein/ihr Anteil am Problem ist.

Nur, um das zu können, müssen wir hinschauen und nicht wegschauen. «Aaneluege» heisst das auf Schweizerdeutsch in Anspielung auf einen früheren Führungsbrief zum Thema «Aaneschtoh».

Aaneluege/Hinschauen braucht Mut. Mut heisst ja bekanntlich nicht, keine Angst zu haben. Mut heisst, etwas zu tun, obwohl man Angst davor hat. Und Angst haben wir häufig vor dem, was wir sehen könnten, falls wir hinschauen würden. Wenn das Ergebnis meines Hinschauens heisst, dass eine Führungskraft, die mir unterstellt ist, unfähig ist, was dann? Muss ich sie entlassen? Wie soll ich ihr das sagen? Kann ich sie versetzen? Ist sie woanders besser? Kriege ich eine bessere Führungskraft für ihre Stelle? Reisse ich ein Loch auf? Was fällt von dem ganzen Schlamassel auf mich zurück, wo ich diese Führungskraft doch damals selbst eingestellt habe? – Fragen über Fragen. Ein ganzer Katalog von drohenden Risiken.

Murphys Gesetz

Wegschauen ist leichter. Wer weiss, vielleicht geht diese Führungskraft ja von selbst. Vielleicht bessern sich die Dinge. Vielleicht gewöhnen sich die Mitarbeiter daran. Vielleicht geschieht ein Wunder.

Nein, meistens geschieht kein Wunder. Im Gegenteil, Murphys Gesetz verspricht bekanntlich: Wenn etwas schiefgehen kann, dann wird es schiefgehen.

Das heisst, die Probleme, die wir mit Begeisterung im PAL-Feld verschwinden lassen, holen uns ein. Was eigentlich MS gewesen ist, wird früher oder später auch Meine Sache. In aller Regel aber in verschärfter Form. Sarkastisch (oder auch einfach mit etwas Lebenserfahrung) könnte man ja sagen: Du kannst deine Probleme gut ignorieren, sie werden dich schon nicht ignorieren.

Natürlich gibt es auch Dinge, die sich tatsächlich von alleine regeln. Es hat beispielsweise keinen Sinn, bei einer organisationalen Veränderung schon nach zwei Tagen auf alle möglichen Schwierigkeiten reagieren zu wollen. Oft handelt es sich um ganz normale Kinderkrankheiten, die sich rasch und von alleine auswachsen.

Herauszufinden, was PAL und was MS ist, bleibt eine schwierige Sache. Und keiner «kann» es einfach. Aber den ersten Schritt dazu, den muss man lernen und üben: Aaneluege, also hinschauen.

Das muss man einerseits selbst (sei es tatsächlich mit den Augen oder sei es mittels Reflexion) tun. Andererseits ist kritisches, aber offenes Zuhören dafür wichtig. Offen, weil man sonst nichts gesagt bekommt. Kritisch, weil man alles ernst, aber längst nicht alles wörtlich nehmen soll. Nicht jeder, der über Dritte schimpft oder klagt, hat recht.

Mit Gelassenheit

Nur am Rande: Die Kunst ist, Zuhören und Verstehen zu trennen vom Akzeptieren. Wer gut zuhört, kann verstehen. Das bedeutet noch nicht, dass er auch akzeptieren muss. Am besten zu akzeptieren sind vermutlich Klagen, bei denen derjenige, der die Klage formuliert, überzeugend trennen kann zwischen PAL und MS. Nur hat der arme Kläger es damit ja nicht einfacher als Sie...

Wie auch immer – wenn Sie sich so umschauen: Wie gross ist das PAL-Feld in Ihrem Unternehmen, in Ihrem näheren Umfeld, bei Ihnen selbst? Und welche Probleme sind darin geparkt?

Was andererseits beschäftigt Sie selbst als MS, obwohl es vermutlich eine echtes PAL ist? Wer müsste es richtigerweise zu MS erklären?

Sehen Sie und Ihr Vorgesetzter und Ihre Mitarbeiter und Ihre Peers die Antworten auf diese Fragen gleich?

Aaneluege/Hinschauen kann Angst machen. Diese Angst lässt sich bewältigen, wenn man ein wenig Gelassenheit entwickelt. Denn wenn etwas MS ist, heisst das ja noch lange nicht, dass ich dafür auch eine Lösung habe. Vielleicht brauche ich Zeit dafür oder Hilfe oder beides. Doch ist nichts Ehrenrühriges dabei, ein Problem (noch) nicht gelöst zu haben – wenn man es wenigstens erkannt hat und auf die Lösung hinarbeitet!

Und sollte dies in Ihrer Umgebung aber doch als ehrenrührig angesehen werden, dann ist das, mit Verlaub, wirklich ein PAL.