Karriere

«Kann man gute von schlechter Führung unterscheiden? Was sind die Kriterien dafür? Und wem gäben Sie in dem Rating welches Handicap?» Cartoon: Silvio Erni

Handicap

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Für einmal lade ich Sie ein zu einem Gedankenexperiment. Das Schöne an Gedankenexperimenten ist, dass man das Experiment nicht wirklich durchführen muss. Es kann also gar nichts schiefgehen. Das Gedankenexperiment, das ich Ihnen vorschlage, stellt sich vor, Führungskräfte würden ein Handicap haben, so wie dies Golfspieler haben.

Um allen falschen Verdächtigungen gleich vorzubeugen: Ich spiele kein Golf und werde es auch nie. Jeder echte Golfer wird bei meinen Ausführungen sofort merken, dass ich nichts davon verstehe. Aber für unseren Zweck tuts mein Laienwissen schon.

Wer das Golfspiel erlernen will, muss ein bestimmtes theoretisches Wissen über Regeln und Begriffe und so in einer schriftlichen Prüfung nachweisen. Dann nimmt er zum Beispiel Stunden. Jedenfalls lernt er (auf welchem Weg auch immer, sicherlich aber auch durch Praxis) so passabel zu spielen, dass er überhaupt die Platzreife erhält, also auf einem richtigen Golfplatz mit anderen spielen darf. Er startet dann mit dem Handicap 36. Das bedeutet, dass er im Vergleich zu einem Profi bei jedem der 18 Löcher 2 Schläge mehr zugute hat (zum Beispiel 6 statt 4). Ein Profi hat Handicap 0. Bei dafür bestimmten Turnieren kann man nun – wenn man besser spielt, als das eigene Handicap erwarten lässt – dieses Handicap verbessern. Der Wert ist auf dem Internet publiziert, sodass jeder von jedem wissen kann, wie gut er golft.

Interessante Fragen

Nun übertragen wir dies einmal auf die Führung.

  • Bevor also jemand Führungsverantwortung übernimmt, müsste er ein elementares Wissen (was natürlich nicht gleich Können ist) über Führung nachweisen.
  • Dann müsste er sich so lange mit Praxisproblemen auseinandersetzen, bis er die «Platzreife» erhielte, also in eine echte Führungsverantwortung käme.
  • Dann würde er mit Handicap 36 starten und könnte – in realen Führungssituationen oder zum Beispiel in Führungsentwicklungs-Workshops – von da an auf ein tieferes Handicap hinarbeiten.
  • Jeder im Betrieb (oder sogar darüber hinaus) wüsste, was er für ein Handicap hat.
  • In eine Geschäftsleitung dürften nur Profis mit Handicap 0 rein.

Ich finde, solange man das Ganze eben nur als Gedankenexperiment nimmt, nun verschiedene Fragen interessant.

  • Was würde die International Leadership Association an zu prüfendem Führungswissen reglementarisch verlangen? Was ist an theoretischem Wissen in Sachen Führung nützlich und gesichert?
  • Was muss jemand nachweisen, damit er oder sie die «Platzreife» in der Führung erhält? Sind das Methoden? Haltungen? Werte? Fertigkeiten? Erfahrungen? Lehren?
  • Wie würde man Führungskräfte im Alltag ihrer Führungsbeziehungen oder im Workshop bei der Reflexion dieser Beziehungen so bewerten, dass man ihnen das Handicap anpassen könnte (es kann sich übrigens auch verschlechtern)?
  • Was würde es bedeuten, wenn jeder von jedem das Führungshandicap kennen würde? Auch alle Mitarbeiter von allen Chefs?
  • Wie würden sich Geschäftsleitungen verändern, wenn man da nur mit Handicap 0 reinkäme?

Gute und schlechte Führung

Die Kernfrage, die man vor all diesen Fragen lösen können müsste, heisst: Kann man gute Führung von schlechter Führung unterscheiden, und welches sind die Kriterien dafür?

Zwar glaube ich nicht, dass jemand behaupten würde, es gäbe keinen Unterschied zwischen guter und schlechter Führung. Aber ich bin sicher, dass man sich bei der Definition der Bewertungskriterien schnell in die Haare geraten könnte.

Zum Ersten liegt dies daran, dass man Führungskräfte bewerten würde, aber Führung meint. Nun ist dies so, als würde man Ehemänner benoten, wollte damit aber ihre Ehe qualifizieren. Führung ist Beziehungsgestaltung, und man schaut – wenn man Führungskräfte bewertet – lediglich auf ihren Anteil. Das ist unbefriedigend, aber rein praktisch wohl auch unvermeidlich.

Zum Zweiten liegt es daran, dass uns bei der Führung ja nicht der «Input» – Anstrengung, Verhalten, Absicht und so weiter einer Führungskraft – interessiert, sondern der «Output», die Wirkung. Nur kann mitunter auch aufgrund vermeintlich «schlechten» Führungsverhaltens eine durchaus gute Wirkung entstehen (zum Beispiel, wenn Mitarbeitende ihrem miserablen Chef beweisen wollen, was sie ohne ihn fertigbringen).

Zum Dritten liegt es an der Zeitachse: Wann muss eine gute Wirkung von Führung eintreten, dass man sie guter Führung zuschreibt? Ursache und Wirkung sind in sozialen, das heisst komplex vernetzten Systemen nur sehr schwer auseinanderzuhalten. Es gibt vielfältige Rückkoppelungseffekte. Und das Geschehen ist nicht vorbei, wenn man 18 Loch gespielt und die Schläge ausgezählt hat.

Wem gäben Sie welches Handicap?

Wie eingangs schon zugesichert: Der Golf-Handicap-Vergleich war nur ein Gedankenexperiment. Aber eine Diskussion unter Führungskräften ebenso wie innerhalb von hierarchischen Führungsbeziehungen ist er allemal wert.

Denn das Spannendste wäre ja ohnehin, wenn jeder von jedem das Handicap und seine Entwicklung über die Jahre kennen würde und darüber reden dürfte.

Führen Sie doch mal in Ihrem Umkreis diese Diskussion! Wem gäben Sie welches Handicap? Wer in Ihrer Geschäftsleitung hat ein Handicap grösser null, ist also kein Profi? Was führt Sie zu Ihrer jeweiligen Beurteilung? Können Sie Ihre Einschätzung dem Betroffenen ins Gesicht sagen? Und warum (eventuell) nicht? Wäre das Gespräch locker-sportlich oder eifersüchtig-verbissen?

Eines aber verlangt die sportliche Fairness: Nur wer auch über sein eigenes Handicap redet und reden lässt, darf über das von anderen reden. Und nach der Abrechnung trifft man sich dann noch auf ein gemütliches Bier.