Karriere

«Sie dürfen das ureigenste Terrain von Führung – persönliche Führung – nicht kampflos aufgeben und es Prozessen, Tools, Regeln überlassen.» Cartoon: Silvio Erni

Persönliche Führung

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Führung ist nicht alles, was eine Führungskraft tut. Führung in einem engeren Sinne umfasst all das, wofür eine Führungskraft nur als Person geradesteht. Der Spielraum für so verstandene persönliche Führung hat in den letzten Jahren deutlich abgenommen, und dies aus zwei Gründen:

Zum einen gibt es immer mehr Führungsaufgaben, die einer Führungskraft weggenommen werden. Sie werden durch formal definierte HR-Prozesse ersetzt, sie werden vom obersten Management stellvertretend für alle anderen Führungskräfte ein für allemal erledigt. Oder sie werden so sehr standardisiert, dass dem individuellen Stil kaum mehr Spielraum bleibt.

Zum anderen gibt es immer mehr führungsfremde Tätigkeiten, die die Agenda von Führungskräften zuschütten, sodass ihnen immer weniger Zeit für persönliche Führung bleibt. Nicht selten verleitet der Druck dieser zusätzlichen Aufgaben (im Reporting, in Projekten, mit ewigen Abwesenheiten oder schlicht durch zu extensiven Mailverkehr) dazu, im Innersten eigentlich noch ganz empfänglich dafür zu sein, wenn einem die Führungsaufgaben immer mehr weggenommen werden.

Ureigenstes Terrain

Wer Führungskraft sein will, sollte sein ureigenstes Terrain nicht kampflos aufgeben. Und das ureigenste Terrain ist nun mal die persönliche Führung.

Auch wenn mir alles Umstürzlerische fremd ist – ich rufe Sie dazu auf, sich dieses Terrain wenigstens ein Stück weit zurückzuerobern:

  • Schauen Sie wieder häufiger spontan bei Ihren Mitarbeitenden im Büro oder am Arbeitsplatz vorbei – sitzen Sie nicht nur bei terminierten Meetings zusammen.
  • Sagen Sie Ihren Leuten auch ausserhalb des definierten Zielsetzungs- und Leistungsbeurteilungsprozesses, was Sie von ihnen wollen und wie Sie ihre Leistung beurteilen.
  • Schreiben Sie keine Mail, wenn ein Telefongespräch möglich wäre, Missverständnisse verhindern könnte und Gelegenheit für ein kleines bisschen Smalltalk gäbe.
  • Besorgen Sie sich zwar alle wichtigen Informationen zu einem Problem, aber erlauben Sie sich auch Bauchentscheide – und stehen Sie dazu.
  • Gehen Sie das Risiko von Konflikten ein – Führung ist kein Beliebtheitswettbewerb.
  • Stellen Sie auch Leute ein, die nicht dem Standard-0815-Profil entsprechen, sondern Ecken und Kanten haben und auch einmal unkonventionell sind.
  • Nehmen Sie sich Zeit zum Denken – ohne Meeting, ohne Block vor sich, ohne Hand an Maus oder Tastatur, ohne Handy; am besten, Sie legen die Beine auf den Tisch oder Sie gehen herum oder Sie machen einen Spaziergang.
  • Verzichten Sie auch mal auf PowerPoint, reden Sie frei und akzeptieren Sie, wenn ein anderer frei spricht.
  • Stehen Sie zu Ihrer Persönlichkeit – mit all Ihren schrägen Seiten, aber helfen Sie anderen, damit umzugehen, und respektieren Sie immer die Würde der anderen.
  • Stellen Sie sich vor Ihre Mitarbeitenden, wenn die einmal Mist gebaut haben.
  • Schielen Sie nicht auf Ihre Karriere, seien Sie eher bereit, sich jederzeit feuern zu lassen; Mutlose soll man nicht Führer sein lassen.
  • Stehen Sie zu Ihren Sympathien und Antipathien; niemand ist glaubwürdig, wenn er allen gegenüber genau gleich ist – denn so einem Menschen ist man letztlich gleichgültig.
  • Gönnen Sie sich Emotionen, Sie sind nicht aus Plastik; aber seien Sie sich nicht zu schade, sich zu entschuldigen, wenn Sie deswegen einmal jemanden verletzt haben.
  • Beherrschen Sie die modernen Arbeitswerkzeuge und Management-Tools – aber lassen Sie sich nicht von ihnen beherrschen.
  • Sprechen Sie Ihre eigene Sprache, überlassen Sie es den Beratern, mit «Management-Speak» Eindruck schinden zu wollen.

Unverwechselbares Image

Sie werden sagen: Wenn ich all das tue, kriege ich Ärger. Das ist so. Aber nicht nur: Sie kriegen auch «Standing» und Respekt und ein unverwechselbares Image. Man wird sie als Führungspersönlichkeit wahrnehmen.

Hier muss ich etwas einfügen: Wenn Sie die Führungsliteratur ein wenig verfolgen, dann wissen Sie, dass der «Asbach Uralt» der Führungspsychologie seit einigen Jahren fröhliche Urständ feiert. Man ruft wieder nach charismatischer Führung und behauptet, persönliches Charisma befähige zum Führen. Das ist leider nicht wahr. Wahr aber ist, dass persönliches Charisma einer – mit mehr als nur dieser Ausstrahlung befähigten – Führungskraft viel leichter vieles aus der oben genannten Liste verzeihen lässt. Ihr Ärger wird also etwas geringer, ihr Gewinn etwas grösser sein. Charisma ist keine Fähigkeit. Charisma ist eine gute Entschuldigung und ein vorzügliches soziales Schmieröl.

Der Witz an der Sache ist Folgendes: «Echte» Menschenführung ist persönlich und umfasst lauter Dinge, die nicht schon durch betriebliche Reglemente, Prozesse oder gar Gesetze geklärt sind, sondern eine gewisse Willkür (nicht Beliebigkeit oder Unüberlegtheit!) der Führungskraft enthalten. Die Führungskraft tut etwas, weil sie davon überzeugt ist – es hätte aber auch wegfallen oder etwas anderes sein oder anders getan werden können. Dies führt zu einem gewissen Rechtfertigungs- und Glaubwürdigkeitsdruck. Wo jemand führen will, da muss jemand folgen! (Bei dieser Gelegenheit: Warum sollten Ihre Leute eigentlich Ihnen folgen?)

Unverdiente Geschenke der Götter

Persönliche Ausstrahlung, Charisma, ein gewinnendes Wesen, Verführungskünste und ähnliche unverdiente Geschenke der Götter reduzieren diesen Rechtfertigungsdruck. Schön für diejenigen, die darüber verfügen.

Wem die Sache jedoch nicht so leicht in den Schoss fällt, der kann sich persönliche Führung überhaupt nur leisten, wenn er tragfähige Führungsbeziehungen aufbauen kann, die ihm auch dort noch Respekt und Akzeptanz verschaffen, wo er kraft seiner Führung Dinge tut, die eben nicht nur Applaus auslösen.

Wer sich aber persönliche Führung gar nicht leisten kann oder will, bleibt als Führungskraft ein König ohne Land. Da hilft das Tragen der Krone auch nicht viel.