Karriere
Kontrollverlust
Felix FreiAus der Stressforschung wissen wir, dass Kontrollverlust eine der wichtigsten Ursachen von Stress ist, und der macht bekanntlich krank. Was Kontrollverlust meint, kann sich jeder vorstellen, der vor etlichen Jahren im Fernsehen die Szene in «Verstehen Sie Spass?» gesehen hat, wo ein Modellflugzeugpilot seine Fernsteuerung mal kurz einem zufällig vorbeikommenden Spaziergänger übergibt – und verschwindet. Der unfreiwillige «Pilot» versucht verzweifelt, das Modellflugzeug zu steuern, das aber macht höchst eigenwillige Sachen. Es wird gar nicht von seiner Fernsteuerung, sondern von einer versteckten aus gesteuert. Und das verzweifelte Opfer der versteckten Kamera schreit eins ums andere Mal «Söll emal cho!!!» (Der soll endlich wiederkommen!). Das ist Kontrollverlust pur.
Mich dünkt, Führungskräfte sind oftmals Menschen, die keine Überraschungen lieben. Die Dinge sollen sich so entwickeln, wie sie es geplant und gewollt haben. Überraschungen jedoch – falls es sich nicht gerade um Lottogewinne handelt – führen leicht zu Kontrollverlust. Dummerweise aber sind Mitarbeiter Menschen, von denen ihre Vorgesetzten in der Regel erwarten, dass sie jede Überraschung gelassen zur Kenntnis nehmen. Sie sollen sich ohne Angst und Widerstand ins Unvermeidliche schicken, wenn sich irgendetwas überraschenderweise von heute auf morgen ändert. Sie sollen mitspielen, mitmachen, womöglich gar begeistert sein. Auch wenn es sich nicht gerade um Lottogewinne handelt. Mitarbeitende sollten – so käme es ihren Vorgesetzten gelegen – das Wort «Kontrollverlust» überhaupt gar nicht kennen, geschweige denn unter dem Phänomen leiden.
Unerhörte Chefs
Das Fatale für unsere Überlegungen hier ist freilich, dass alle Adressaten dieses Führungsbriefs immer sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeitende sind (wenn sicher auch auf unterschiedlichem hierarchischem Niveau).
In Ihrer Rolle als Führungskraft planen und initiieren Sie also Veränderungen und gehen davon aus, dass sich Ihre Mitarbeitenden freudig darauf einlassen. Wenn nicht, halten Sie sie für ängstlich oder ewiggestrig oder gar renitent. Zumindest aber für unnötig aufgeregt.
In Ihrer Rolle als Mitarbeiter/in aber finden Sie es unerhört, wenn Ihre Chefs mal wieder so eine blöde Idee haben und meinen, Sie hätten gerade darauf gewartet und nichts Gescheiteres zu tun, als da fröhlich und überzeugt mitzutun. Dabei machen Sie sich bei jeder so angekündigten Veränderung durchaus berechtigte Sorgen.
Überraschungen auf jeder Ebene
Sie fragen sich unwillkürlich (und sei es nur nächtens im Schlaf):
- Was heisst das für mich?
- Ist mein Rang bedroht?
- Verliere ich Einfluss, Zuständigkeiten, Unterstellte, Kompetenzen?
- Wirkt sich die Sache negativ auf meinen Lohn oder Bonus aus?
- Verliere ich Privilegien (vom Parkplatz bis zum Titel)?
- Was sagt man danach über mich – sieht man in mir einen Verlierer oder eine Siegerin?
- Schaffe ich den Change überhaupt?
- Was ist überhaupt der Sinn der ganzen Sache?
- Ist es denn nicht gut, so wie wir es bisher gemacht haben?
- Usw., usf.
Ich versichere Ihnen, Ihre Mitarbeitenden stellen sich ganz ähnliche Fragen, wenn sie von einem Change betroffen sind, den Sie (oder Ihre Vorgesetzten) initiiert haben.
Die Schlussfolgerung kann leider kaum lauten, Überraschungen seien somit auf jeder Ebene zu vermeiden. Denn es wird sie weiterhin geben. Und Kontrollverlust damit auch. Auch bei Führungskräften. Sie werden also lernen müssen, Kontrollverlust besser auszuhalten.
Gewisse Gelassenheit
Wie lernt man, Kontrollverlust (besser) auszuhalten?
- Erstens geht es darum, sich selber vom Anspruch zu befreien, jederzeit alles unter Kontrolle haben zu müssen. Sie können nur dann jederzeit alles unter Kontrolle haben, wenn Sie allwissend und allmächtig sind. Man nennt Sie dann «Der liebe Gott», und für dieses Amt sind Sie derzeit vermutlich unterbezahlt.
- Zweitens geht es darum, sich zu vergegenwärtigen, dass es zwar zu Ihren Aufgaben gehört, Menschen, Prozesse, Ergebnisse zu kontrollieren. Sie vergleichen dazu jeweils Soll- und Ist-Werte. Es gehört aber nicht zu Ihren Aufgaben, niemals eine Differenz zwischen Soll und Ist aufkommen zu lassen. Im Gegenteil: Führungskräfte braucht es überhaupt nur deswegen, weil die Dinge eben manchmal vom Weg abkommen und dann darauf zurückgeführt werden müssen.
- Drittens geht es darum, sich ein wenig Gelassenheit zuzulegen. Gewiss, es kann manches schief gehen. Sicher, es wird jede Menge schief gehen. Aber garantiert, die Welt wird dabei nicht untergehen. Praktizieren Sie «Management by Schindler-Lift»! Dort finden Sie ja immer den – im Sinne einer psychologischen Selbstinstruktion durchaus sinnvollen – Befehl: Ruhe bewahren!
- Viertens geht es darum, sich in die Position Ihrer Mitspieler zu versetzen. Das gibt Ihnen die Möglichkeit zu erkennen, wohin die Dinge sich entwickeln werden. Gehen Sie dabei aber nicht einfach von der Annahme aus, Ihre Mitspieler wollten primär Ihnen schaden. Glauben Sie mir, mit so einer Befürchtung nähmen Sie sich selber viel zu wichtig. Andere wollen – so wie Sie auch – einen guten Job machen. Also lässt sich der Sinn einer Sache am besten begreifen, wenn man ihn (auch) aus den Augen der anderen anschaut.
- Fünftens schliesslich geht es darum, gezielt danach zu schauen, wo sich in einer Veränderung eine Chance abzeichnet. Es reicht nicht, einfach an den Spruch zu glauben, wonach eben in jeder Veränderung auch eine Chance stecke. Man muss schon danach suchen. Und diese Suche ist Ihre eigene, Ihre ganz persönliche Sache. Wenn Sie sich damit beschäftigen (statt mit den oben formulierten ängstlichen Fragen), dann werden Sie sich nicht als Opfer fühlen, sondern als Akteur/in. Das ist das beste Mittel gegen das Gefühl von Kontrollverlust überhaupt.
All dies hilft nur, besser mit Kontrollverlust umzugehen. Es garantiert keineswegs, überhaupt kein Gefühl von Kontrollverlust mehr zu haben. Nur: Sollte Sie so ein Gefühl überhaupt nie beschleichen, dann überschätzen Sie sich entweder masslos, oder Sie leben in fürchterlich langweiligen Verhältnissen.
Beides wünsche ich Ihnen nicht.