Karriere

Fast 15 Tonnen schwer, vollelektronisch betrieben und topmodern: Einer der Full-Flight-Simulatoren im Lufthansa Aviation Training Center in Opfikon ZH. Alle Bilder: JCR

Hier werden Aviatik-Träume zur Realität

Jean-Claude Raemy

Nahe des Flughafens Zürich steht seit einigen Monaten ein europaweit einzigartiges Aviatik-Ausbildungszentrum. Travelnews hat sich im topmodernen Lufthansa Aviation Training Center umgesehen und kam nicht aus dem Staunen heraus.

Über 50 Jahre lang wurden die meisten Schweizer Piloten im Ausbildungszentrum an der Balz-Zimmermann-Strasse in Kloten ausgebildet. Das ist Geschichte: Seit Anfang dieses Jahres ist das neue «Lufthansa Aviation Training Center» (LATC) in der Gewerbezone von Opfikon-Glattbrugg, unweit der Büros von Hotelplan Suisse oder Emirates, in Betrieb. Ein von aussen her recht unscheinbarer Bau, dessen Inneres aber europaweit für viel Neid sorgt.

«Wir sind hier im Epizentrum der Schweizer Luftfahrt», sagt David Birrer, Managing Director der Lufthansa Aviation Training Switzerland AG, eingangs zur kleinen Presseschar, welche das Gebäude besichtigen darf. Eigentlich war ein dreitägiger öffentlicher Event vorgesehen gewesen, doch daraus wurde aus Corona-Gründen nichts. Schade, denn das LATC hat es in sich: «Dieses Ausbildungszentrum ist das einzige europaweit, welche sämtliche Aspekte, die zur Ausbildung von Piloten und Flugbegleitern gehören, unter einem Dach zusammenführt», so Birrer, «hier werden Träume zur Realität.» Die anderen Trainingsstandorte der Lufthansa Group (in Berlin, Essen, Frankfurt, Köln, München und Wien) verfügen nicht über diese Komplettausstattung. Wobei hier nicht nur Crews der Lufthansa Group, sondern auch «Fremde», etwa von Helvetic Airways, Easyjet Switzerland, TUIfly oder Chair, ausgebildet werden.

Diese neue «Realität» nahm 2014 ihren Anfang, als bekannt wurde, dass für das frühere Swissair-Herz am Balsberg, wo stets auch die Pilotenausbildung erfolgte (zunächst in der «Schweizerischen Luftverkehrsschule», später in der «Swissair Aviation School AG» bzw. «Swissair Trainings Center AG» und nach dem Untergang der Swissair dann ab 2002 in der «Swiss Aviation Training AG») eine neue Nutzung vorgesehen ist. Zu jenem Zeitpunkt war aber auch schon klar, dass das Ausbildungszentrum für moderne Bedürfnisse nicht mehr zeitgemäss genug war. So entstand die Vision eines neuen Ausbildungszentrums, welches als Ort der Begegnung zwischen Auszubildenden und Profis fungieren sollte, welches modern und umfassend und vor allem auch flexibel sein sollte - der Pilotenbedarf ändert sich immer wieder, weshalb das ganze Gebäude «atmungsaktiv» sein sollte, wie es Birrer ausdrückt: Dank cleverer Betonskelettbauweise und einer Ausstattung mit ausschliesslich mobilen Elementen kann der Platz extrem flexibel genutzt werden. Fixe Büros gibt es nicht, auch für den Chef nicht. Und die Kosten werden dank moderner Elemente tiefer gehalten als bisher, etwa indem die Flugsimulatoren rein elektrisch und nicht mehr hydraulisch betrieben werden.

Der Coup ist gelungen: Der Umzug erfolgte pünktlich und parallel zum am alten Standort noch bis heute in reduziertem Masse weiterlaufenden Betrieb. Das neue Gebäude erstreckt sich nun entlang der Cherstrasse über eine Länge von knapp 120 Metern und steht auf 160 Bohrpfählen, welche bis zu 30 Meter tief in das darunterliegende Felsgestein eingebohrt wurden, was die Gebäudestatik für die insgesamt sechs, rund 15 Tonnen schweren Flugsimulatoren gewährleistet. Das Investitionsvolumen für die Lufthansa Group beläuft sich auf rund 50 Millionen Franken.

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Und was gibt es denn nun alles in diesem 11'000 Quadratmeter Fläche umfassenden «State of the art»-Bau? Auf der Erdgeschossfläche befinden sich einerseits Simulatoren für die Politenausbildung - sowohl bewegliche Full-Flight-Simulatoren als auch statische Simulatoren. Geschult wird für A320-200, A220, A330-300/A340-300, B777 und ERJ-145. Ein A330-Simulator ist aktuell noch am alten Standort, wird  dort voraussichtlich noch bis April 2021 im Einsatz sein, doch ab Juni 2021 ist dann der Teilbetrieb am alten Standort definitiv beendet.

Auf derselben Etage befinden sich auch fünf voll ausgestattete Flugzeugrumpfattrappen (E170, A220, A320, A330/A340, B777-300) für das Notfalltraining der Kabinencrews sowie eine öffentliche Cafeteria mit Terrasse und grosszügiger Freitreppe, welche in Zusammenarbeit mit der Migros kostengünstig (und öffentlich!) betrieben wird.

Die Medienvertreter können kurzen Schulungspräsentationen der Kabinencrews, etwa eine Notfallübung oder ein «Medical Training», mitverfolgen und erhalten interessante Informationen über Länge und Inhalt der Ausbildung. Anschliessend dürfen sie auch selber Hand in einem der Simulatoren anlegen - in unserem Fall ein Full-Flight-Simulator des A220. Unter fachkundiger Leitung wird kurz über den Flughafen bis zum Bodensee und zurück geflogen. Die visuelle Darstellung aus dem Cockpitfenster ist extrem realistisch und obwohl sich der Simulator nicht bewegt, geht man unweigerlich mit der Bewegung mit - und merkt schnell, dass der Pilotenjob alles andere als einfach ist. Ein Platz ist übrigens noch leer: Im Januar kommt dann noch der letzte Simulator ins Gebäude.

Was hat es noch? Direkt bei der Terrasse steht der «Fire Trainer», ein Metallkubus, in dem die Auszubildenden den richtigen Umgang mit Feuer lernen. Das Gebäude wird über eine verglaste Lobby betreten, von wo aus Lifte in die unterschiedlich genutzten Geschosse führen. Für die Piloten beginnt und endet das Training im dritten Geschoss, wo sich direkt oberhalb der Simulatoren die Briefing- und Debriefing-Räume befinden. Das zweite Obergeschoss ist belegt mit administrativen Abteilungen und dem eingemieteten «Pilot Assessment Center» von Swiss International Air Lines. Auf dem ersten Obergeschoss befinden sich Spezialräume für die Schulung der Flugbegleiter, wie Kabinennachbildungen für Service-Übungen, Räume für das Notfalltraining oder ein Beautyraum. Hier wird «Appearance Training» abgehalten, also Haltung und Erscheinung geschult, das richtige Anziehen der Uniform, wie man Haare tragen und Schminke auftragen soll und mehr. Ebenso gibt es einen Schulungsraum, in welchem «Crew Resource Management» gemacht wird, wo also Themen wie Stressbewältigung, interne Kommunikation oder die Sicherheitskultur durchleuchtet werden. Die Wichtigkeit des Teamworks wird anhand von Praxisbeispielen der US-Raumfahrtbehörde NASA unterrichtet. «Dieser Teil der Ausbildung ist in den letzten Jahren immer wichtiger geworden», unterstreicht Birrer.

Noch etwas: Die Parkmöglichkeiten sind im Gegensatz zum früheren Standort in Kloten relativ beschränkt. Doch ist das Gebäude sehr gut an den ÖV angeschlossen, in kurzer Gehdistanzen von den Bahnhöfen Glattbrugg oder Opfikon bzw. der Tramhaltestelle Rümlang-Bäuler.

Wie steht es um die Nachfrage?

Das LATC ist zweifelsfrei ein Ausbildungs-Bijou und unterstreicht laut Birrer das Commitment der Lufthansa Group, in ihr Personal zu investieren. Wie Birrer festhält, ist das LATC nicht nur infrastrukturell das modernste Aviatik-Ausbildungszentrum Europas, sondern auch personell, dank Instruktoren, die allesamt sehr viel Piloten- wie auch Unterrichts-Erfahrung einbringen.

Natürlich kommen aber auch Fragen hinsichtlich der aktuellen Situation auf. Die unvorhersehbare Corona-Krise hat die Aviatik weltweit und dabei auch die Lufthansa Group in die grösste Krise aller Zeiten gestürzt. Damit einhergehend dürften sich die Zukunftsaussichten für Piloten innert Jahresfrist massiv verschlechtert haben, da der Bedarf auf absehbare Zeit wohl eher tief sein wird. Viele Airlines haben bereits Piloten entlassen oder stehen noch davor. Was bedeutet dies für das LATC?

Birrer sagt hierzu, dass der Trainingsbedarf in der Krise essenziell ist. Piloten müssen sich etwa alle sechs Monate einem Training stellen, um ihre Lizenz zu behalten. In diesem Jahr, wo wenig geflogen wurde, wurde viel trainiert, um à jour zu bleiben. Dazu gab es auch Trainingsbedarf wegen besonderer Rückführungsflüge an neue, zuvor nicht angeflogene Orte. Doch die Situation beschönigen will Birrer nicht: Geplant waren eigentlich jährlich rund 12'000 Absolventen, daraus wird - auch wegen Corona-bedingten Betriebsrestriktionen - vorerst kaum etwas.  «Der Einbruch der Nachfrage ist real», hält Birrer fest, nicht ohne anzumerken, dass die flexible Einsatzweise des Gebäudes sich nun gleich von Anfang an bewährt hat. Aktuell wird noch bzw. wieder trainiert; seit März steht jedoch der Ausbildungsbetrieb still. In den kommenden Wochen will der Konzern entscheiden, wie es weitergeht. Ein Problem ist unter anderem, dass eine Pilotenausbildung üblicherweise an mehreren Orten stattfindet. VFR-Flüge beispielsweise werden in Vero Beach (Florida) und Goodyear (Arizona) trainiert, also in den USA, wohin aktuell nicht gereist werden kann und woraus im März notfallmässig Pilotenschüler in die Schweiz zurückgeflogen werden mussten, um nicht in den USA zu stranden.

Eine Lösung wird bestimmt gefunden, denn wenn auch der Bedarf aktuell reduziert ist, so werden in absehbarer Zukunft wieder gut ausgebildete Piloten und Kabinencrews benötigt. Deren Stellenwert dürfte in der «neuen Luftfahrt-Realität» auch wieder höher sein als zuletzt. Den «Traum vom Fliegen» hegen immer noch viele. Und viele künftige Piloten und Pilotinnen oder Flight Attendants werden auch in Zukunft ihre Ausbildung in Opfikon ZH genossen haben - wegen den bestmöglichen Ausbildungsbedingungen.