Karriere

«Ein für allemal: Die Forderung, wir sollten immer offen und ehrlich miteinander umgehen, beweist nur eine völlige psychologische Ignoranz.» Cartoon: Silvio Erni

Offen und ehrlich

Felix Frei

Hier kommt, geschätzte Führungskräfte, eine Anregung zum Start in die neue Woche, zur Reflexion Ihrer Führungsprinzipien.

Wo immer ich mit Führungskräften arbeite – und das tue ich seit über dreissig Jahren fast ununterbrochen – gibt es etwas, was sich durchs Band wiederholt (und vielleicht als Einziges in dieser langen Zeit nicht durch neue Moden abgelöst wurde). Sobald man darüber spricht, wie denn der Umgang untereinander und die Kommunikation zwischen den Beteiligten sein sollen, sagt der Erste «offen und ehrlich» – alle nicken, und keiner widerspricht.

Ausser mir. Ich muss es Ihnen, liebe Führungskräfte, offen und ehrlich sagen: Die Forderung nach offenem und ehrlichem Umgang ist unredlich. Denn sie kaschiert, dass es in aller Regel um etwas ganz anderes geht:

  • Vielfach geht es darum, eine (vielleicht zwar unabsichtlich begangene) Taktlosigkeit unter dem Deckmantel von Offenheit und Ehrlichkeit zu rechtfertigen. Wenn ich jemandem sage: «Das ist ja furchtbar, wie Sie stottern», dann ist das möglicherweise offen und ehrlich – vor allem ist es aber ungeheuer taktlos.
  • Oder es geht darum, den anderen unausgesprochen in die Pflicht zu nehmen, alles zu glauben, was man ihm sagt. Schliesslich wurden ja Offenheit und Ehrlichkeit vereinbart. Angesichts der bekannten grundsätzlichen Schwierigkeiten der zwischenmenschlichen Kommunikation ist dies eine Zumutung. Denn noch nicht einmal ich selber weiss immer mit Gewissheit, ob ich alles, was ich gesagt habe, auch genau so meine. Überdies tut es allen Beteiligten besser, wenn Kommunikation kritisch und wohlwollend erfolgt, also nicht alles für bare Münze nimmt.
  • Vielleicht geht es auch darum, den anderen moralisch zu drängen, seine Karten offenzulegen. Hosen runter! Das ist Nötigung. Woher nehme ich mir das Recht, genau zu wissen, was der andere denkt oder was ihn bewegt?
  • Manchmal würde es überdies an Dummheit grenzen, offen und ehrlich alles zu sagen. Etwa dann, wenn man über Kündigung(en) erst nachdenkt, sich aber noch nicht sicher ist.

Taktlosigkeit, Zumutung, Nötigung und Dummheit: Nicht gerade die ideale Rezeptur für sorgsamen Umgang und gelingende Kommunikation!

Eine anschlussfähige Kommunikation

Vielleicht müssen wir jedoch etwas nachsichtiger sein und davon ausgehen, dass die Forderung nach «Offenheit und Ehrlichkeit» nur die hilflose Umschreibung für «Behandle mich bitte anständig!» ist. Respekt und Achtung – das wäre dann das eigentlich Gemeinte. Aber das traut man sich wohl häufig nicht für sich einzufordern.

Oder aber man meint mit «offen und ehrlich» eigentlich Aufrichtigkeit. Aber dann wird es noch schwieriger, denn: Aufrichtigkeit ist das Einzige, was man nicht kommunizieren kann. Bitte merken Sie sich dies! Natürlich kann man aufrichtig kommunizieren, aber man kann nicht sagen, dass man dies tut. Wenn ich jemanden sagen höre «Ich sage Ihnen jetzt mal ganz ehrlich...», dann schleicht sich die Überlegung in meinen Kopf: «Also hat er mich bis jetzt belogen?»

Selbstredend kann die Konsequenz aus all den genannten Bedenken nicht heissen, nicht offen respektive nicht ehrlich zu sein:

  • Die Forderung nach Offenheit sollten wir abändern und stattdessen fordern, Kommunikation müsse anschlussfähig sein. Das bedeutet, dass ich immer so kommuniziere, dass der andere auch kommunizieren kann. Dass die Kommunikation durch meine Kommunikation nicht abgebrochen wird, sondern – im Prinzip! – fortgesetzt werden kann. Natürlich kann man auch mal eine unfruchtbare Diskussion abbrechen – aber eben nicht die Basis 71 der Kommunikation. Statt offen im Sinne von «alles sagen» gälte dann eben «offen für eine Fortsetzung unserer Kommunikation». Das meint anschlussfähig. Respekt und Achtung sind dafür sicherlich gute Zutaten.
  • Die Forderung nach Ehrlichkeit sollten wir nicht auf Wahrheit beziehen, sondern auf einen anderen Teil, der ebenfalls in dem Wort steckt: nämlich ehrenhaft. So wie man früher von einem Ehrenmann sprach, so sollte Kommunikation sein. Sie sollte mit der eigenen Ehre und der Ehre des anderen vereinbar sein. Das meint ehrenhaft. Ohne Respekt und Achtung ist das nicht zu haben.

Mikropolitik

Mit beiden Forderungen – in der Kommunikation anschlussfähig und ehrenhaft zu sein – ist verträglich, was nämlich in jeder Kommunikation auch vorkommt: ein Stück Mikropolitik. Das Spiel, das man spielen muss, um jemanden für sich einzunehmen, zu überzeugen, zu gewinnen, vielleicht gar zu verführen usw. Dies ist – solange es anschlussfähig und ehrenhaft geschieht – keineswegs unanständig. Es ist vielmehr Teil jeder menschlichen Kommunikation. Und es verletzt weder Respekt noch Achtung.

Eine gute Mikropolitik umfasst den kunstvollen Einsatz von Elementen wie:

  • Charme
  • List
  • entwaffnender Humor
  • diplomatisches Abfedern schlechter Nachrichten
  • dosierter und gezielter Einsatz von Informationen
  • sich so in den anderen hineindenken, dass man aus seiner Logik heraus argumentieren kann

Keinen Platz aber hat unter den Titeln «anschlussfähig» und «ehrenhaft» eine Mikropolitik, die...

  • ... Machtverhältnisse egoistisch ausnutzt
  • ... andere über den Tisch zieht
  • ... bewusst mit Unwahrheiten arbeitet
  • ... auf Hinterlist basiert
  • ... andere verletzt und/oder sie ihr Gesicht verlieren lässt
  • ... kurzum: eine Mikropolitik, die andere Menschen weder respektiert noch achtet

Zwar gilt auch hier der Grundsatz: «Wie man in den Wald ruft, so tönt es zurück.» Aber dennoch können Sie – auch wenn Sie selber um anschlussfähige und ehrenhafte Kommunikation bemüht sind – keineswegs garantieren, dass dies andere auch tun. Auch nicht bei Ihren Mitarbeitenden.

Aber dennoch liegt es immer an Ihnen, den ersten Schritt zu tun. Warten auf den anderen zählt nicht. Das sage ich Ihnen ganz offen und ehrlich...