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So erstrebenswert autonomes Arbeiten ist, manchmal wird dies einem auch zu viel. Bild: Fotolia

Autonomie ist niemals gratis

Felix Frei

Das selbstständige Arbeiten bringt mit sich, dass die Menschen «always on» sind, jederzeit ihre Mails – auch die geschäftlichen – checken. Das könne in die Selbstgefährdung führen, schreibt Psychologe Felix Frei.


Als ich Anfang der Siebzigerjahre studierte, schwappte gerade die hierarchiekritische Haltung der Achtundsechziger auf das Schulsystem über. Folgender Witz machte da die Runde: Im antiautoritären Kindergarten fragt ein Knirps die Kindergärtnerin (heute wohl Kindergärtnernde): «Frölein, müssen wir heute schon wieder spielen, was wir wollen?»

So erstrebenswert Autonomie ist, manchmal wird sie einem auch zu viel. Die Zeiten der streng autoritären Führung sind Gott sei Dank vorbei. Direkte Anweisungen sind die Ausnahme. Die Führung erfolgt eher über Zielsetzungen und Leitplanken. Die Steuerung wird so indirekt. Das hat den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aller Stufen vermehrt Autonomie gebracht – doch gratis war das nicht.

Zunahme von «interessierter Selbstgefährdung»

Der Berliner Philosoph Klaus Peters spricht von «interessierter Selbstgefährdung». Menschen wollen sich für ihre Arbeit interessieren. Wenn sie die notwendige Autonomie erhalten, dann unternehmen sie alles, um diese Arbeit gut zu machen. Nicht weil sie müssen. Sondern weil es sie interessiert. Ob eigentlich Zeit für die Mittagspause oder Feierabend wäre, kümmert sie oft nicht, wenn es darum geht, eine Sache noch zu Ende zu bringen oder einem späten Kunden noch zu Diensten zu sein.

Dazu kommt heute, dass viele Menschen «always on» sind, also jederzeit ihre Mails – auch die geschäftlichen – checken. Für mich als Selbstständigen ist es unproblematisch, wenn mir beim sonntäglichen Frühstück etwas in den Sinn kommt, worauf ich gleich ein entsprechendes Mail an meinen Kunden absetze – erledigt ist erledigt, und mein schlechtes Gedächtnis ist entlastet. Wenn ich dann aber – obwohl die Sache absolut nicht dringlich ist – zehn Minuten später von einer in einem Grossunternehmen angestellten, vielleicht dreiundzwanzigjährigen Projektassistentin eine Antwort erhalte, dann frage ich mich schon, ob das auf Dauer wirklich gesund ist – und zwar für beide.

Arbeitswissenschaftler beobachten eine deutliche Zunahme von «interessierter Selbstgefährdung». Es gibt Unternehmen, die den Riegel vorschieben wollen, indem sie die Mailserver nachts und am Wochenende stilllegen. So etwas kann meines Erachtens nicht die Lösung sein. Man kann Menschen nicht die Mündigkeit zusprechen, in Autonomie und mit Interesse viel Eigenverantwortung zu übernehmen – und ihnen dann die Mündigkeit absprechen, damit auch selbstverantwortlich umzugehen.

Von Vorgesetzten kennen wir das Phänomen schon länger. Nun hat es auch alle anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Unternehmen erreicht. Zumindest viele von ihnen. Und an sie richtet sich nun dieselbe Anforderung wie an viele Manager: Tragt euch Sorge!

Noch immer steht in manchem Führungslehrbuch, Führungskräfte seien für die Motivation ihrer Leute verantwortlich. Sind sie nicht! Menschen motivieren sich mit guten Aufgaben schon selbst. Aber es ist Führungsaufgabe zu sehen, wenn jemand der «interessierten Selbstgefährdung» erliegt. Auch für Kolleginnen und Kollegen ist es Pflicht, darauf zu achten. Zu allererst aber ist es Ihre Pflicht und der Preis für Ihre Autonomie, den Sie zahlen: Zu lernen, selbstständig, aber nicht selbstzerstörerisch zu arbeiten.