Karriere

Es scheint so, dass heute wieder mal die ganze Arbeit auf meinen Schultern liegt. Bild: Fotolia

«Bin ich hier eigentlich der Einzige, der arbeitet?»

Felix Frei

Viele schätzen ihr Arbeitspensum als überdurchschnittlich hoch ein. Psychologe Felix Frei äussert sich zu dieser Wahrnehmung.

Persönlich kenne ich nur Menschen, die sich überdurchschnittlich anstrengen und mehr leisten als andere. Zumindest nach ihrem eigenen Bekunden. Offenbar spielt hier die gleiche wundersame Statistik wie bei der bekannten Zahl, wonach gut 80% der Autofahrer überzeugt sind, sie gehörten zur besseren Hälfte aller Automobilisten.

In der Arbeitswelt ist die eigene Wahrnehmung abhängig davon, wie sehr man unter Druck steht. Wenn Sie im Stress sind, dann fällt Ihr Auge auf den Kollegen, der schon wieder beim Rauchabzug steht und eine Zigarettenpause macht. Und Sie hören die Kollegin, die am Telefon ganz offensichtlich über eine private Mitteilung lacht. Und wenn Sie spät aus dem Büro kommen, bestätigen für Sie die wenigen, die auch noch da sind, nur als Ausnahme die Regel, wonach alle anderen längst gemütlich zuhause sind.

Umgekehrt glauben Sie es jedes Mal verdient zu haben, wenn Sie eine Pause machen, wenn Sie früher nach Hause gehen und wenn Sie einen privaten Anruf tätigen. Denn Sie wissen ja, wie viel Sie insgesamt leisten. Allerdings merken Sie kaum, dass Sie in diesem Moment vielleicht andere ganz gehörig nerven, die ihrerseits gerade gewaltig im Stress sind. Siehe oben.

Nicht mit Dritten über jemanden schnöden

Drei Schlussfolgerungen legen sich mir nahe – aber ich habe leise Zweifel, ob Sie das auch so sehen:

Erstens ist die Frage, ob ein anderer genug arbeitet oder nicht, völlig unabhängig davon, wie viel Sie arbeiten. Der Massstab ist nicht ein sozialer Vergleich. Den Massstab liefern Zielvereinbarungen, Aufgabenprofile und eingegangene Verpflichtungen.

Zweitens ist es nicht nur Ihr Recht, sondern sogar Ihre Pflicht, etwas zu sagen, wenn Sie überzeugt sind, dass jemand zu wenig leistet (nicht: weniger als Sie!). Sagen Sie es der betreffenden Person oder ihrem Chef. Sonst jedoch keinem. Es gibt ein Recht aller darauf, dass alle ihren Teil zum Ganzen beitragen. Doch fordern Sie dieses Recht nicht ein, indem Sie mit Dritten über jemanden schnöden, der das Ihrer Ansicht nach nicht bringt. Sie müssen schon die direkte Auseinandersetzung oder den Weg über die zuständige Führungskraft suchen.

Drittens sollten Sie Ihre eigene Leistung nicht überschätzen. Wenigstens nicht in der Relation zur Leistung anderer. Auch wenn Sie viel und Gutes leisten: Andere tun dies auch. Und dass nicht alle genau gleich viel leisten, versteht sich auch von selbst.

Wir können also zusammenfassend auf die im Titel gestellte Frage antworten: «Nein, Sie sind nicht der Einzige, der hier arbeitet.» Und wir können hinzufügen: «Sie sind nicht einmal der Einzige, der das glaubt.»

Es würde mich ja freuen, auch einmal jemanden kennenzulernen, der von sich selbst – ohne falsche Koketterie, sondern ganz realistisch und reflektiert – sagen würde, er arbeite und leiste vermutlich nur unterdurchschnittlich viel. Angesichts von so viel Selbsterkenntnis würde ich ihm dies glatt verzeihen.