Hotellerie
«Wir wünschen uns mehr Hotels, in denen Menschen mit Behinderungen willkommen sind»
Anita SuterWo man hinschaut spriessen farbige Blüten, die Luftfeuchtigkeit ist höher als auf der anderen Seite des Gotthardtunnels. Im Uferschilf des Luganersees quakt, schnattert und singt es.
Nur ab und zu wird die Ruhe durch den Motor eines Kleinflugzeugs gestört, nicht weit weg ist nämlich der regionale Flughafen. Sonst aber ist es im Centro Magliaso, diesem weitläufigen, ungewöhnlichen Ferienzentrum mit Seeanschluss nahe der italienischen Grenze, unendlich idyllisch.
Bunt zusammengewürfelte Gruppe
So auch auf der überdachten Terrasse, die das Herzstück des zweiwöchigen Aufenthalts einer Reisegruppe von Procap, dem grössten Schweizer Mitgliederverband für Menschen mit Behinderungen, bildet. Hier, zwischen Seeufer, Wiese, Pool und Restaurant, finden Kartenspiele, Basteleien, heiteres Zusammensein und manchmal auch spontane Gesangseinlagen statt. «Unseren eigenen Raum zu haben ist enorm wichtig», erklärt Bernhard Bütler, der den zweiwöchigen Aufenthalt als Reiseleiter begleitet.
Auf 14 Gäste – bunt zusammengewürfelt aus der ganzen Deutschschweiz, mit unterschiedlichen Graden an kognitiver und/oder physischer Behinderung und variablem Bedarf an Betreuung und Pflege – kommen 12 Begleitpersonen. Die Gäste und ihre Begleiter lernen sich oftmals erst bei Reiseantritt kennen. «Bei unseren Reisen geht es auch um die Entlastung der Familienangehörigen und um die Möglichkeit in neuer Umgebung Ferien zu machen. Ferien vom Alltag eben, auch von jenem in den Institutionen, in denen viele unserer Gäste leben», erklärt Helena Bigler, Leiterin des Ressorts Reisen & Sport bei Procap Schweiz.
Bedarf lässt sich nicht abdecken
Pro Jahr führt Procap rund 60 Gruppenreisen im In- und Ausland durch. Viele davon sind meist schnell ausgebucht. «Der Bedarf ist grösser, als das, was wir abdecken können», so Bigler. Dem zu Grunde liegen finanzielle, aber auch personelle Ressourcen. Denn die Feriengäste sollen neben ihren eigenen Reisekosten nicht auch noch jene der Begleitpersonen bezahlen müssen. Diese werden wenn möglich von Versicherungen, Fonds und Stiftungen gedeckt.
Die Herausforderungen beginnt allerdings bereits bei der Rekrutierung eben jener Begleitpersonen. «Unsere Organisation basiert auf einem Laiensystem. Das ist für alle Beteiligten jeweils sehr bereichernd, kann jedoch auch gruppendynamisch herausfordernd sein. Deshalb sind flexible und anpassungsfähige Begleitpersonen wichtig.»
Daniela Nocera, die aufgrund ihrer Erkrankung an Multipler Sklerose mit fortschreitenden Mobilitätseinschränkungen kämpft, und ihre Begleiterin Esther Peterhans haben sich im Rahmen einer Procap-Reise auf Teneriffa kennengelernt. «Danach habe ich Esther gefragt: Wohin fährst du als nächstes in die Ferien? Dort melde ich mich auch an!», lacht die aufgestellte 49-Jährige.
Damit fiel die Wahl auf das Angebot Magliaso: Erholung am Luganersee. «Es ist super hier! Dank der Infrastruktur kann ich in vielen Dingen um viel selbständiger sein als in anderen Hotels», streicht sie hervor. «Und es ist so wunderschön hier!» Dass Daniela Nocera ihrer grosser Leidenschaft, dem Reisen, auch weiterhin nachgehen kann, ist für die ehemalige Direktionsassistentin aus der Reisebranche wichtig. «Darum bin ich auch extrem dankbar, dass es solche Angebote gibt», fügt sie an.
«Das Angebot an geeigneten Unterkünften ist gering.»
Das Centro Magliaso ist ein Glücksfall für den Verband. Eine geeignete Unterkunft für Menschen mit Behinderungen zu finden sei nämlich alles andere als einfach, wie Helena Bigler zu denken gibt. «Das Angebot an Unterkünften, die so viel Platz und so eine tolle Lage wie das Centro bieten, ist verschwindend gering. Und wer will schon in einer Militäranlage oder irgendwo im hintersten Tal Ferien machen?» Nebst der notwendigen Barrierefreiheit sei zudem auch eine passende Kultur seitens des Betriebs und der anderen Hotelgäste wichtig. Das Centro Magliaso, genossenschaftlich geführt und aus einem Lagerort der evangelischen Kirche zu einem «Ferienzentrum für Alle» weiterentwickelt, bietet beides.
Auf dem Gelände mit direktem Seeanschluss können sich auch Personen mit physischen Behinderungen selbständig bewegen. Im rollstuhlgängigen Haus «Boscaccio» sind zwölf behindertengerecht eingerichtete Doppelzimmer mit Pflegebetten, sowie zwei Einzelzimmer, jeweils mit eigenem Bad, untergebracht. Nützliche Utensilien wie Patientenheber oder Duschstuhl werden ebenfalls zur Verfügung gestellt. Und beim Aussenpool findet sich ein Lift, mit dem auch gehbehinderte Gäste ins Wasser können.
Teilhabe am «normalen Leben» ist wichtig
«Es ist wichtig, dass Menschen mit Behinderungen so viel wie möglich an dem teilhaben können, was wir als «normales Leben» bezeichnen. Und dazu gehören eben auch Ferien», hält Reiseleiter Bernhard Bütler fest. Nebst Aktivitäten in der Ferienanlage sind auch Ausflüge Teil des Reiseprogramms. Ins nahegelegene Caslano zum Beispiel, zum Blues-Festival oder zum Pizzaessen. Der schmucke Ort ist zu Fuss – und eben auch per Rollstuhl oder Velo – erreichbar, und versprüht viel italienisches Flair.
Kleiner Wermutstropfen: Den Ausflug auf den Monte Generoso kurzfristig zu verschieben war leider nicht möglich. «Sobald man mit Rollstühlen unterwegs ist, wird es kompliziert», erklärt Bütler. Die Bahn braucht Vorlaufzeit, um die speziellen Wagen aus dem Depot zu holen. Und der Besuch im Swiss Miniature wurde dieses Jahr bewusst ausgelassen; «Einige unserer Gäste hätten wahrscheinlich sensibel auf die Schäden des Hagelsturms reagiert.» Ein voller Erfolg waren hingegen die Schifffahrt auf dem Luganersee oder etwa der Markttag in Ponte Tresa.
Erholung vom Alltag
«Ich geniesse es, neue Leute und neue Umgebungen kennenzulernen», erzählt Giuseppe Crincoli. Für den 58-jährigen Handrollstuhlfahrer ist es der zweite Aufenthalt im Centro Magliaso. Er schätzt die Abwechslung vom Arbeitsalltag in der Werkstatt, wo er im Bereich Elektrotechnik tätig ist, mag die Auszeit in der Natur.
Vor einigen Jahren begleitete ihn sein Bruder auf eine Nordamerikareise, irgendwann würde er gerne auf die Malediven. «Aber solch grosse Reisen sind sehr aufwändig, das fängt schon beim Packen an. Auf zwei Wochen Ferien kommen gerne mal drei Monate Vorbereitungszeit». Gefragt nach seiner nächsten Wunschdestination braucht der gebürtige Italiener deshalb nicht lange überlegen: «Wieder hierher!»
Nachhallende Begegnungen
«Hier» ist auch ein Ort, an dem die unterschiedlichsten Gruppen, Lager und Individualreisende aufeinandertreffen. Während sich eine Seniorengruppe zum Wanderausflug bereitmacht, bricht eine Schulklasse zum City Trip nach Milano auf. Beim Essen, aber auch am Pool, bei den Sportanlagen oder an der lauschigen Feuerstelle kommt es zu Begegnungen. «Solche Berührungspunkte sind sehr wichtig und wertvoll», findet Martina Sommer, die als Begleiterin der Procap-Gruppe vor Ort ist. Sie bauen Vorurteile ab und sorgen für Inklusion.
Helena Bigler würde sich mehr Hotels wünschen, die Menschen mit Behinderungen willkommen heissen. Und zwar nicht irgendwo im Hinterland, sondern in touristischen Zentren, mit Einkehr- und Ausflugsmöglichkeiten, und wo etwas Leben herrscht. Eben jenen Dingen, die für viele von uns bei der Hotelwahl eine Rolle spielen. Die Suche nach solchen Unterkünften gestaltet sich schwierig, wie Bigler bestätigt. «Oft kriegen wir von den Hoteliers zu hören, dass die Anwesenheit unserer Gruppen die anderen Gäste stören würde.»
Anders verhält sich die Sache im Centro Magliaso. Davon, dass die inklusive Willkommenskultur hier nicht auf Papier gepflegt wird, zeugt eine Grusskarte. Noch während die Gruppe von Bernhard Bütler am Luganersee weilt, trifft Post bei Procap in Olten ein. Die Verfasserin ist soeben selbst von ihren Ferien im Centro zurückgekehrt; «Und dort waren auch Procap-Leute, die wunderbar betreut wurden. Es hat uns sehr beeindruckt, dieses friedliche Miteinander. Ihrer Organisation ein Kompliment und gute Wünsche!»