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«In Moskau lernen Schweizer Polizisten und IT-Spezialisten russisch»
Artur K. VogelIrkutsk liegt 4200 Kilometer oder fünfeinhalb Flugstunden und fünf Zeitzonen östlich von Moskau. Jacqueline allerdings hat dreieinhalb Tage gebraucht: Sie ist mit der berühmten Transsibirischen Eisenbahn angereist. Die Lausannerin wohnt in Bern und hat bis vor kurzem in der Bundesverwaltung gearbeitet; jetzt nimmt sie eine Auszeit und lernt Russisch. Und nach einem Monat in Moskau setzt Jacqueline nun die Studien in der sibirischen Kreisstadt fort.
Wieso ausgerechnet Irkutsk? Ganz einfach: Seit kurzem hat die Sprachschule Liden & Denz Intercultural Institute of Languages hier eine Niederlassung. Gegründet worden ist sie von Felix Baumann, einem 42-jährigen Jurassier. Dieser räumt gleich mit ein paar Vorurteilen auf. Das hartnäckigste, nämlich dass man sich hier die Nasenspitze abfriere, widerlegt Baumann schon dadurch, dass er Shorts trägt. Tatsächlich herrscht im Spätfrühling eine ganz und gar unsibirische Hitze von mehr als 30 Grad.
Ein Jurassier gründet Sprachschulen in Sibirien
Baumann studierte an der Universität Lausanne Germanistik, Slawistik und Ethnologie und lebte schon 2004 bis 2007 in Irkutsk: zuerst, um hier seine Russischkenntnisse zu perfektionieren, später als Dozent für Französisch an der Universität. Nach sechsjähriger Abwesenheit kam er 2013 zurück und eröffnete die erste Sprachschule, an der Einheimische Deutsch, Chinesisch, Englisch, Italienisch und Spanisch lernen können. Anfang 2017 gründete er zusammen mit Walter Denz das zweite Institut, das sich auf Russischunterricht für Fremdsprachige spezialisiert hat.
Walter Denz (53) aus Uster fing viel früher an: 1992 kam er nach St.Petersburg und gründete hier zusammen mit Sven Liden seine erste Schule – ohne ein einziges Wort Russisch zu sprechen. Inzwischen beherrscht er die Sprache perfekt, ist in St. Petersburg mit einer Russin verheiratet, hat einen zwölfjährigen Sohn und siebenjährige Zwillinge und sagt: «Ich bin ein St. Petersburger.»
Mit der Sprachschule erwischten Denz und Liden allerdings einen schweren Start: «1992 hatten wir genau 12 Schüler. 1994 waren wir praktisch pleite», sagt Denz. Liden stieg aus; der Name blieb. Die Wende kam dank einem deutschen Sprachreiseunternehmen, das Liden & Denz in seinen Katalog aufnahm. 2004 konnte Walter Denz die Schule in Moskau gründen. «Und für Leute, die sich nicht nach Russland getrauen, haben wir eine weitere Schule in der lettischen Hauptstadt Riga», sagt er. Zudem besitzt Liden & Denz einen eigenen Lehrbuchverlag.
Dieses Jahr werden 2'500 Sprachschüler erwartet
Für 2018 erwartet Denz das beste Geschäftsjahr seit je: «Der Buchungseingang ist phänomenal.» Rund 2500 Sprachschülerinnen und -schüler werden Kurse bei Liden & Denz absolvieren, der damit der grösste private Anbieter von Sprachkursen in Russland ist. In St. Petersburg sei das Publikum etwas jünger, sagt Julia Voevodina, CEO von Liden & Denz: «Nach Moskau kommen vor allem Business-Kunden und Expats. Aus der Schweiz haben schon Leute aus der Bundesanwaltschaft, Polizisten, Gefängniswärter, aber auch IT-Spezialisten, Banker, Journalisten oder IKRK-Delegierte hier Russisch gelernt.»
Der Sprachaufenthalt dauert laut Voevodina durchschnittlich rund vier Wochen. Wer wegen Sicherheitsbedenken nicht nach Russland reisen will, liegt übrigens falsch. Das sagt Walter Denz, und Claudio Cesarano bestätigt es. Cesarano ist CEO der Globetrotter-Tochter Mediatouristik AG; diese bietet Russlandreisen und Sprachaufenthalte unter den Labeln Atlas-Reisen sowie linguista an. «Russland ist sicher zum Reisen und spannend», meint Cesarano.
«Moskau ist touristisch noch unterverkauft»
Moskau ist nicht mehr die graue Metropole mit den geduckten Menschen wie zu den düsteren Zeiten der kommunistischen Herrschaft. «Die Russen sind sehr selbstbewusst geworden», sagt Denz. Der Privatverkehr ist beträchtlich, vor allem zu den Stosszeiten. Und auf dem berühmten Kreml treten Touristengruppen, auch russische, einander auf die Füsse. Trotzdem sei Moskau «touristisch noch unterverkauft» findet Denz.
Wer Weite, Leere und Einsamkeit sucht, sollte allerdings nach Irkutsk kommen. Die Stadt selber mit ihren gut 600'000 Einwohnern ist einen Besuch unbedingt wert: Alte Kirchen, traditionelle Holzhäuser, teils perfekt renoviert, teils am Zerfallen, das sogenannte 130-Grad-Viertel am Angara-Fluss mit historischen Gebäuden, Boutique-Hotels und Spezialitätenrestaurants oder auch der lebendige Zentralmarkt laden zum Verweilen. Und wer plötzlich Verlangen nach mitteleuropäischer Küche hat, ist in der Brasserie BBB des Belgiers Benoît bestens aufgehoben.
Schwitzen in der Banja, frieren im eisigen Baikalsee
Richtig ländlich wird es allerdings ausserhalb der Stadt: Der Verwaltungkreis (Oblast) von Irkutsk ist mit seinen 775‘000 Quadratkilometern gut doppelt so gross wie Deutschland, mit rund 2,5 Millionen Einwohnern aber sehr dünn besiedelt. Auch Felix Baumann liebt die endlose Weite. Manchmal wandert er auf der Trekkingroute am Ufer des Baikalsees, dieses riesigen, stillen und bis zu 1642 Meter tiefen Gewässers, das man von Irkutsk aus in einer Stunde erreicht.
Wenn er dann zurück ist in Listwjanka, dem Touristenort am Seeufer, schwitzt er in der Banja, dem traditionellen Dampfbad, und stürzt sich dann ins Wasser, das auch im Sommer eiskalt bleibt. Im Winter hingegen, wenn Liden & Denz in Irkutsk Pause macht (aber nicht an den anderen Unterrichtsorten), ist der Baikalsee von einer dicken Eisschicht bedeckt und damit noch stiller als sonst.