Here & There
Xi'an, das historische Zentrum Chinas
Urs Wälterlin, Xi'anVor ein paar Sekunden war er noch da, jetzt ist er plötzlich verschwunden. Der rote Elefant. Aus Plüsch, schon etwas ausgebleicht von der chinesischen Sonne, schwebte er eben über den Köpfen tausender von Besucherinnen und Besuchern, am Ende einer ausziehbaren Stahlantenne, gehalten von unserer chinesischen Reiseführerin Mary. Der rote Elefant ist die einzige Möglichkeit, Mary in der Masse von Touristen zu orten, die sich durch die Anlage der Terracotta-Krieger zwängen. Ein Gefühl von Panik überkommt mich. Mary ist zwar nett, aber auch eiskalt.
«Wenn Sie zu spät sind, warte ich am Treffpunkt genau fünf Minuten auf Sie», warnte sie uns im Bus, mehrmals. «Wenn Sie dann nicht hier sind, sind Sie sich selbst überlassen». Was ist, wenn ich im Menschengetümmel Mary nicht mehr finde, und die anderen 30 Mitglieder meiner Gruppe? Wie komme ich zurück nach Stadt Xi’an, ins Hotel? Ich habe kein Bargeld. Und die App Alipay, mit der in China scheinbar jeder bezahlt, funktioniert irgendwie nicht mit meiner Kreditkarte.
Chinas Massen(tourismus)
Ich bin im Massentourismus gelandet. Nach 45 Jahren strikt unabhängigen Reisens. Statt selbst zu denken, zu planen, folge ich blind meiner Gruppe. Und Mary. Und ihrem roten Elefanten. Ein Besuch der Terrakotta-Armee in Xi'an kann zwar individuell organisiert werden. Geführte Touren bieten jedoch detailliertere historische Einblicke und Erklärungen. Das ist es mir wert.
China ist ein wunderbares, interessantes, exotisches Reiseland. Ob Great Wall, Peking, die Megastadt Shanghai – die Eindrücke sind unglaublich vielfältig. China ist modern geworden, urban, hoch entwickelt. Vorbei sind die Zeiten der Millionen von Velofahrern in dunkelblauen Mao-Anzügen, die mich bei meinem ersten Besuch vor fast 40 Jahren so beeindruckt hatten.
Heute fahren auf breiten Strassen dicke BMWs und schnittige Teslas (Elon Musk hat in Shanghai eine Gigafabrik mit 20'000 Angestellten). Trotz Stau und Stossverkehr ist kaum eine Hupe zu hören – Kameras und Mikrofone an jeder Ecke sorgen für Disziplin in einem Land, in dem man überwacht ist von dem Moment an, wo man das Zimmer verlässt. Die Mehrheit der Chinesen leben heute in Apartments – oftmals hunderttausende in einer einzigen, gigantischen Siedlung am Stadtrand. «Wo parken die wohl alle?», fragt ein Mitreisender.
Doch es ist das alte China, das die meisten Besucherinnen und Besucher lockt. In kaum einer anderen Gegend dieses riesigen Landes ist die Vielfalt an Geschichte so gross wie in der Region um die Stadt Xi’an. «Hier begann die Seidenstrasse», erzählt Mary. Xi'an ist eine der ältesten Städte Chinas und ein Tor in die antike Welt. Abseits der modernen Strassenzüge ist der Besuch dieser alten Hauptstadt ein Schritt in ein lebendiges Museum, ein Einblick in die glanzvolle Vergangenheit des Reichs der Mitte. Xi'an war die Hauptstadt für mehrere der bedeutendsten Dynastien Chinas, darunter die Zhou-, Qin-, Han- und Tang-Dynastien.
Die Krieger des ersten Kaisers
Die Stadt hat zahlreiche gut erhaltene historische Stätten, wie die Alte Stadtmauer, die die Altstadt umgibt und von deren Wehrgängen aus man einen Panoramablick hat. Die Grosse Wildganspagode und die Kleine Wildganspagode zeigen das buddhistische Erbe der Stadt. Wegen seiner Rolle in der Seidenstraße bietet Xi'an bis heute eine lebendige Mischung aus chinesischen, islamischen und anderen zentralasiatischen Einflüssen. Das muslimische Viertel ist ein geschäftiger Stadtteil, in dem Besucher eine einzigartige kulturelle Mischung durch seine Märkte, Speisen und Architektur erleben können.
Doch es ist die Armee der Terrakotta-Krieger, für die Xi’an am meisten bekannt ist – gut eine Stunde mit dem Bus vom Zentrum der Stadt entfernt. 1974 stiessen Bauern in einem Feld auf Tonscherben - und hatten eine der grössten Wunder der Menschheitsgeschichte entdeckt. Die Terrakotta-Armee ist eine Sammlung von über 8000 lebensgrossen Soldaten, Pferden und Streitwagen, die mit dem ersten Kaiser von China, Qin Shi Huang, begraben wurden. Sie sollten ihn im Jenseits schützen. Jede Figur ist individuell gestaltet und zeigt eigene Gesichtszüge. Ihre Kleidung widerspiegelt die verschiedenen Ränge und Rollen innerhalb der Armee.
Die Stätte, inzwischen in mehrere Hallen aufgeteilt und jeden Tag von Zehntausenden besucht, bietet einen tiefen Einblick in die militärischen, politischen und künstlerischen Errungenschaften der Qin-Dynastie (221-206 v. Chr.). Der Detailreichtum und die Handwerkskunst offenbaren viel über die Technologien, Fähigkeiten und Ressourcen, die zu dieser Zeit verfügbar waren. Anerkannt als eine der bedeutendsten archäologischen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts, sind die Terrakotta-Krieger als UNESCO-Weltkulturerbe gelistet. Für Besucher zusätzlich interessant: die Ausgrabungen an der Stätte dauern an, die Arbeit der Archäologen kann sogar beobachtet werden. Es tauchen immer wieder neue Funde auf – erst ein Teil der Armee wurde bisher ausgegraben.
Ein kulinarisches Paradies
Im Herzen von Xi'an, in den Strassen und Gassen der alten Stadt, sind die Aromen der berühmten Küche dieser Region Zeugnis eines jahrhundertelangen kulturellen Austauschs. Als Ausgangspunkt der Seidenstraße ist Xi’ans kulinarisches Erbe ein farbiges Geflecht diverser Einflüsse. Biangbiang-Nudeln ziehe Einheimische und Reisende gleichermassen an: dicke, handgezogene Teigwaren, in einer würzigen, pikanten Sauce getränkt. Komplexe Geschmacksnoten von Knoblauch, Chili und Sichuanpfeffer erzählen eine Geschichte von alten Handelsrouten und kultureller Verschmelzung.
Und dann Roujiamo, der chinesische Hamburger – vielleicht das bekannteste Gericht überhaupt, eine geschmackvolle Mischung aus gewürztem Fleisch in einem knusprigen Fladenbrot. Auch Yangrou Paomo ist ein Signatur-Gericht, eine wärmende Hammelsuppe mit zerkrümeltem Brot. Schliesslich dürfen Dumplings nicht fehlten. Diese Teigtaschen sind mit verschiedensten Fleisch- und Gemüsearten gefüllt. Ein Restaurant im Zentrum von Xi’an bietet 28 verschiedene Sorten an.
Da vorne ist er, der rote Elefant. Wie wenn sie mich necken wollte, tanzt die Puppe an der Stange in der Luft, etwa 30 Meter von mir entfernt. Ich dränge mich durch die Mengen von chinesischen Touristen, zwänge mich an einer Gruppe von Vietnamesen vorbei. Da ist Mary. Ich bin derart erleichtert, sie zu sehen, das Gefühl erinnert mich an damals, als ich als Fünfjähriger meine Mutter im Jelmoli in Basel für ein paar Augenblicke aus den Augen verloren hatte. «Ok, lets go», sagt Mary forsch, und marschiert mit strammem Schritt davon. Ich folge gehorsamst. Den roten Elefanten lasse ich nie mehr aus dem Blick.