Here & There

Sie gilt als die älteste Stadt des Baltikums und ist mit rund 100'000 Einwohnern die zweitgrösste Estlands. Alle Bilder: Visit Estonia

Diese Stadt gibt zu denken

Christian Berzins

Tartu ist Europäische Kulturhauptstadt 2024 und liegt an der russischen Grenze – gerade deshalb sollte man jetzt nach Estland fahren.

«Europäische Kulturhauptstadt» tönt kolossal, lässt die Besucher meinen, Berlin und Paris wären fusioniert worden, um den Kulturdurst zu stillen. Doch seit der Gründung dieses EU-Titels 1985 sind die vermeintlich unbekannten Städte wie Weimar oder San Sebastian längst durch, jetzt sind Trenčín (2025) und Liepāja (2026) dran. Und 2024 ist es neben Bad Ischl und Bodø die estnische Stadt Tartu. Der Titel ist keine Herausforderung für diese Städte und Städtchen, der EU-Geldsegen ermöglicht ihnen ein reiches Programm. Es ist vielmehr eine Herausforderung für den Gast, der für gewöhnlich mit einem sicheren Ziel durch den Prado spaziert und am Broadway Musicals schaut.

Wer in Tartu aus dem Zug steigt, durchschreitet ein Bahnhöfli, wie es auch in Göschenen steht. Doch immerhin lässt die historische Halle erahnen, dass hier – eine Autostunde von der russischen Grenze entfernt – einiges zu erwarten ist. Sicher mal viel Geschichte, ist doch jede Stadt des Baltikums eine siebenbändige Enzyklopädie voller vergessener Ereignisse. Und wenn die Engels- und die Teufelsbrücke überquert sind, merkt der Tartu-Gast, dass es hier mehr zu denken als zu sehen gibt.

Eine Staatsgründung ohne Ballast lieb gewonnener Traditionen

Wer somit mit grossen Erwartungen in diese Kulturhauptstadt mit ihren 100'000 Einwohnern reist, macht etwas falsch. Der Gast wird hier allerdings einiges falsch machen und Dinge sagen wie: «Wow, ihr habt ja unsere Schweizer Trottinetts!». Darauf wird er hören: «Bolt ist ein 2013 von einem damals 19-jährigen Schüler gegründetes estnisches Mobilitätsunternehmen mit heute weltweit 75 Millionen Kunden, es ist vier Milliarden schwer.»

Sie liefern Getränke, Lebensmittel und kleinere Pakete: Die Lieferroboter in Estland.

1991, nach der Befreiung aus der sowjetischen Besatzung, konnten die Esten mit der zweiten Staatsgründung nach 1918 loslegen. Man tat es ohne den Ballast lieb gewonnener Traditionen. Eine unglaubliche Chance, die die von den Sowjets beinahe vernichtete Nation eindrücklich nutzte. Die (fast) alles dokumentierende und vereinfachende ID-Nummer, Internetwahlen, E-Residency (Bürger mit digitaler Identität, die mehr als 27'000 estnische Unternehmen gegründet haben)? Solche Dinge haben die Esten schon lange. Und wer einen Velokurier bucht, erhält Besuch eines Baby-Roboters.

Exkurs fast vorbei. Wir haben erst gerade via Bolt-App das Taxi bestellt und fahren für 2,70 Euro ins Hotel. Niemand sitzt dort an der Rezeption, unser Code öffnet alle Türen, und im Zimmerschrank steht eine Yogamatte, auf dem Tisch eine Delonghi-Kaffeemaschine. Aber aufgepasst: Wer bei Bekannten und Verwandten Kaffee trinken geht, wird eher viel als starken Kaffee erhalten. Öfter ist’s ein Entweder-oder: Mal 50 Jahre hinterher, mal 10 voraus.

Das Tartuer Rathaus gehört zu den Wahrzeichen der Stadt, davor erstreckt sich der Marktplatz mit etlichen Restaurants und Cafés.

100 Meter trennen das Kaufhaus Kaubamaja und die historische Markthalle. Im Schlemmerparadies von Kaubamaja wählt man in der Auslage aus fünf verschiedenen Austern seine liebsten aus, in der Fischabteilung der Markthalle hingegen muss man aufpassen, dass man nicht in einer Eispfütze ausgleitet. Das Markt-Angebot hingegen ist kolossal: Es gibt ganze Fische, geräuchert und grün, riesig und klein, viele, die in den estnischen Seen und Flüssen herumschwimmen. Der Hering allerdings bleibt der König.

Nach den Gurken und dem Räucherfisch die Torten

Nach den Gurken, dem Geräucherten und den grünen Fischen braucht die Nase eine Alternative, hinein ins 125 Jahre alte Kaffee «Werner» mit seiner gigantischen Kuchenauslage. Ein magischer Ort aller Einheimischen zum Verweilen, wo auch die offizielle Kulturhauptstadt-Torte verschlungen wird. Das zuständige Büro beauftragte naturgemäss die Konditorei «Werner», ihnen süsse Vorschläge vorzusetzen. Da im Büro bei der Abstimmung mehr Frauen als Männer anwesend, so erzählt man es sich jedenfalls am Kaffeehausstammtisch, wurde es eine wenig zuckrige, sehr gesunde Karottentorte. Noch wichtiger als Torten sind das estnische (Schwarz-)Brot – auch davon gibt es naturgemäss eine offizielle Kulturhauptstadt-2024-Version.

Das Nationalmuseum von Estland ist nicht nur von aussen ein Hingucker.

Der «Postimees», Estlands seriöse und älteste Tageszeitung, hängt am Zeitungsständer. Wer ihn aufschlägt, wird in den Tagen nach den russischen Präsidentschaftswahlen täglich drei Artikel zu Russland und Putin finden. Und einen Kommentar dazu. Und die Supermarkt-Aktionen der Woche, die wieder die 70-20-Jahre-Regel zeigen: Ein Kilo Rindfleisch kostet 3.99 Euro, so viel wie ein Kilo Gurken. 20 Prozent betrug 2022 die Teuerung, seit dem Überfall der Russen auf die Ukraine ächzt das Land, doch die Solidarität mit der Ukraine bleibt: Kein Land hat prozentual zum Bruttoinlandprodukt mehr bezahlt als die Esten. Gelb-blaue Fahnen in den Strassen gibt es noch und noch, auf Balkonen, in Bücherläden und Bars wie an den staatlichen Gebäuden.

Davon, so wünschen es sich die Agenturen, die Tartu der Welt schmackhaft machen wollen, sollten die Journalisten nicht schreiben. Die Angst vor Putin ist da, gewiss, aber wir fliegen nach Indien und Südafrika, da sollte ein Kurztrip in die Hansestadt Tartu allemal drinliegen. Der Gast ist sowieso in internationaler Gesellschaft: Fast 20 000 Studierende sind während des Semesters in der Stadt, mittlerweile ­ aus aller Welt, was man in den Bars, ­Alkoshops und Pubs der ­Ruutli-Strasse hört.

Ein aufregender Treffpunkt in Tartu: Aparaaditehas (dt. Apparatenfabrik). Ein hipper Treffpunkt für Künstler mit Ausstellungen, Kunstgeschäften und Restaurants.

Da das Kunstmuseum auf dem Rathausplatz schiefer als der Turm von Pisa ist, heisst es doppelt aufzupassen: Achtung, Kunst! Und tatsächlich ist die aktuelle Ausstellung politisch, zeigt man doch auch estnische Karikaturen der Sowjetzeit. Dazu gehören mit einem Augenzwinkern auch sowjetische Werbefilme, die dem Westen einst vorgaukeln wollten, wie grossartig das Leben im Sowjetstaat war. Aktuelle Werbefilme wären genauso toll – und der Wahrheit entsprechend.

Tartu-Tipps

Sehen/Hören

  • Estnisches Nationalmuseum
  • Domkirche und Domberg (im Sommer Picknicken!)
  • Theater Vanemuine (Oper, Ballett, Schauspiel, Musical)
  • Tartu Kunstimuuseum

Essen/Trinken

  • Püssirohukelder: Deftige lokale Speisen und A. Le Coq, das Bier aus Tartu
  • Hõlm: Spitzenküche auf estnisch.
  • Kaffeehaus: Werner
  • Für Restaurants in Estland helfen der «White Guide» und der «Michelin»

Einkaufen

  • Markt (Soola tänav-10)
  • Kaubamaja
  • Aparaat: Galerien, Shops, Restaurants.

Anreise

Swiss ab Zürich nach Tallinn, Air Baltic nach Riga (dann mit Zug oder Bus). Oder von Helsinki mit Finnair nach Tartu.


Dieser Artikel erschien ursprünglich in der «Schweiz am Wochenende».