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Im ukranischen Pripjat nahe Tschernobyl holt sich die Natur unsere Amüsier- und Betonwelten zurück. Bild: Adobe Stock

Dark Tourism: Wenn der Tod als Reiseziel boomt

Tinga Horny

Der Grusel- und Katastrophentourismus gehört zu den ältesten Reiseformen und liegt im Trend. Gereist wird nicht nur, um zu gedenken und die Neugier zu befriedigen.

Wann die Sache mit dem sogenannten Dark Tourism begann, ist reine Ansichtssache. Manche Experten betrachten die Gladiatorenkämpfe der Römer als eine erste Form davon. Andere halten für den Beginn dieser Tourismussparte die Tatsache, dass sich während Queen Victorias Herrschaft in Grossbritannien so mancher Wächter ein paar Münzen dazuverdiente, indem er Neugierigen Zutritt in die Leichenschauhäuser verschaffte.

Heutzutage sind mit den dunklen Seiten des Tourismus nicht ausschliesslich, aber vor allem Standorte von Massenmord und Naturkatastrophen gemeint. Unabhängig vom Ausmass des Unglücks eint sie eines: der Tod. Und der hat gegenwärtig Hochkonjunktur. So sagt das US-Institut Future Market Insights dem Katastrophentourismus in den nächsten Jahren grossartige Wachstumszahlen voraus. Dieses Jahr werden weltweit rund 32 Milliarden US-Dollar Umsatz erwartet. Doch dank jährlicher Zuwachsraten von 2,5 Prozent dürfte der Markt in zehn Jahren zirka 41 Milliarden US-Dollar erreichen.

Ein Grund, warum dieser touristische Nischenmarkt blüht, ist das Bedürfnis der Besucher, sich mit den dunkleren Kapiteln der Geschichte zu beschäftigen. Es geht also ums Gedenken und Verstehen. Eine andere Ursache ist die menschliche Neugier, die bei furchtbaren Ereignissen oft einen unerträglichen Voyeurismus entwickelt. «Der Zerstörung liegt eine ureigene Faszination zugrunde», erklärt Philip Stone, Direktor des Instituts für Dark Tourism Research der britischen Universität von Central Lancashire, das Phänomen.

Dem Wissenschaftler zufolge trennen zudem Schauerstätten für Besucher das Gewöhnliche vom Aussergewöhnlichen. Es geht um die Grenzerfahrung, sich der eigenen Sterblichkeit zu stellen. Denn Naturkatastrophen sowie jede Art von Massenmord können zu jeder Zeit überall geschehen. Es kann also jeden treffen – unabhängig von Macht, Klasse, Bildung und Einkommen.

Völkermordgedenkstätte Murambi

In Bezug auf bedeutende Dark-Tourism-Orte gibt es Unterschiede zwischen den meistbesuchten beziehungsweise eindrucksvollsten Stätten. Mit rund 1,2 Millionen Besuchern im Jahr 2022 steht Auschwitz zahlenmässig mit Abstand an der Spitze. Die Katakomben von Paris mit den aufgestapelten Gebeinen von sechs Millionen Toten kommen auf eine halbe Million Neugierige pro Jahr, Kambodschas Killing Fields auf knapp 200'000 Personen. Gelungene Mahnmale des Schreckens sind ausserdem Ground Zero in New York, Hiroshima und Nagasaki.

Für den Kenner und Betreiber der Website dark-tourism.com, Peter Hohenhaus, handelt es sich dabei jedoch nicht um die Mahnmale, die ihn am meisten beeindruckt haben. Vielmehr packte ihn emotional die Sperrzone von Tschernobyl mit der Geisterstadt Pripjat. Zum einen, sagte er zu Travelbook.de, war es «eine Zeitreise sowohl in die sowjetische Vergangenheit als auch in eine postapokalyptische Zukunft, wenn es die menschliche Zivilisation nicht mehr geben wird und sich die Natur unsere Betonwelten wieder zurückholt».

Die andere Stätte, die Hohenhaus fast traumatisierte, liegt auf einem Hügel im Südwesten Ruandas. Die Völkermordgedenkstätte Murambi erinnert an das Massaker am 21. April 1994, als dort Hutu-Milizen über 50'000 Tutsi in weniger als einem Tag abschlachteten. Es war nur eines von vielen Verbrechen jenes Jahres, dem schätzungsweise eine Million Menschen, meist Tutsi, zum Opfer fielen. Murambi erschüttert Besucher, weil sie mit Kalk mumifizierte Leichen unverhüllt betrachten, denen Grausamkeiten angetan wurden, die sich niemand vorstellen mag.

Wenn in Ruanda aus westlicher Perspektive Leichen unverblümter und drastischer zur Schau gestellt werden, als es zum Beispiel in Konzentrationslagern der Fall ist, dann spricht Philip Stone vom Unterschied der Kulturen. Dark Tourism erzählt dem britischen Wissenschaftler viel darüber, welches Verhältnis einzelne Gesellschaften zum Tod haben. Und zumindest in vielen westeuropäischen Ländern ist das eher ein Tabu.

Zwischen Respekt und Würdelosigkeit

Doch unabhängig von allen Kulturdifferenzen balanciert Dark Tourism ständig zwischen Respekt und Würdelosigkeit. Eine genau definierte Grenze gibt es nicht. Voyeuristisches Verhalten und fröhliche Selfies vor Krematorien würden zumindest Besucher aus Europa verurteilen.

Aber wie steht es mit den Organisatoren von Katastrophentouren? Noch im August 2022 berichtete die US-Ausgabe von Businessinsider.com, dass auf dem Portal Visit Ukraine geführte Touren durch Kiew, Butscha, Irpin und Charkiw angeboten werden. Teilnehmer der "Brave City"-Touren könnten beschossene Gebäude, Bombenreste und zerstörte Militärausrüstung besichtigen, hieß es auf der Website. Zudem müssten sie mit Landminen sowie Luftangriffen rechnen. Die Offerte löste heftige Diskussionen aus, ob es nicht zu früh für diese Art des Tourismus sei. Inzwischen ist der Link zu dieser "Stadtführung für Mutige" nicht mehr aktiv.

Von Dark-Tourism-Stätten, an denen Naturkatastrophen Tod und Zerstörung brachten, können Besucher nach Meinung Philip Stones jedoch auch etwas lernen - nämlich die Auswirkungen des Klimawandels. Gut geführte Touren durch solche Gebiete können zudem mehr finanzielle Hilfe für die Betroffenen mobilisieren. Davon aber will der im letzten Sommer von Waldbränden komplett zerstörte Ort Lahaina auf Maui, Hawaii, vorerst gar nichts wissen. Das Touristenstädtchen zog einst zwei Millionen Touristen pro Jahr an. Doch gegenwärtig schottet sich der ehemals 12000 Seelen zählende Ort komplett ab. Reisenden wird der Zugang verwehrt, der Anschauungsunterricht in Sachen Klimawandel fällt aus, Lahaina trauert immer noch.