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Der Bestand der Steinbock-Kolonie Säntis zählt seit einigen Jahren um die 140 Tiere. Bilder: Adobe Stock

Die Big Five der Alpen

Christian Haas

Nicht nur die afrikanischen Savannen haben ihre «Grossen Fünf», sondern auch die Alpen. Wer mit einem Ranger unterwegs ist, erhöht die Chancen, sie in freier Wildbahn zu erleben. Hier kommt die Bucketlist für Bergtierfans.

Den einst von Grosswildjägern geprägten Begriff der «Big Five» verwenden heutzutage vor allem friedliche Besucher der afrikanischen Graslandschaften. Manch Safaritourist ist auf seiner Fotojagd nach Elefant, Löwe, Nashorn, Büffel und Leopard sogar regelrecht enttäuscht, wenn er die «Fünf nicht vollmacht».

Auch andernorts üben Fünferkonstellationen tierischer Vertreter, die aufgrund ihrer Grösse, Kraft und Schönheit zum Symbol ihres jeweiligen Lebensraums wurden, einen starken Reiz auf Tierfans aus. Das gilt für die «Big Five der Alpen» auf jeden Fall. Der Beweis: Sie lassen sich massenweise in Souvenirshops, auf Schnapsetiketten oder in Vereinsemblemen finden – und mit etwas Glück eben auch in freier Wildbahn. Die Rede ist von Steinbock, Steinadler, Bartgeier, Murmeltier und Gämse.

Während Bergwanderer Murmeltieren und Gämsen vergleichsweise häufig begegnen können, lassen sich die anderen seltener blicken. Gut also, wenn Experten deren Horste oder andere Aufenthaltsplätze kennen. So wie Markus Lackner, der als Ranger im Nationalpark Hohe Tauern Kärnten unterwegs ist und verspricht: «Im Zuge einer geführten Wildtierbeobachtung bietet sich bei uns die seltene Gelegenheit, alle Big Five aus nächster Nähe zu erleben. Dabei erfahren die Teilnehmer Wissenswertes über die Steinböcke und ihre Kletterkünste, die Überlebensstrategie des Gamswildes, das Flugverhalten des Steinadlers, was es mit den Pfiffen bei den Murmeltieren auf sich hat und vieles mehr.»

Meist kauend zwischen Kräutern und Gräsern auszumachen sind die Murmeltiere.

Diese spannende Art des Naturunterrichts findet entweder bei einer regelmässig angebotenen Gruppen- oder bei einer individuell gebuchten Führung statt, Stichwort «Rent a Ranger». Nichtdestotrotz schränkt Lackner ein: «Selbst wenn die Chancen für Sichtungen insbesondere in den Morgenstunden gut stehen, gilt: Wildtiere sind keine berechenbaren Haustiere. Daher ist es immer etwas Einzigartiges, wirklich alle Vertreter in freier Wildbahn zu entdecken.»

Neben dem mit 1865 Quadratkilometern grössten Nationalpark Mitteleuropas werben auch andere Regionen mit den «Alpinen Big Five», darunter die italienischen Seealpen sowie der Schweizerische Nationalpark in Graubünden, wobei hier andere Wildtiere fast noch mehr im Rampenlicht stehen: rund 500 Rothirsche, die insbesondere bei der Brunft im Spätsommer und Herbst ein Spektakel veranstalten.

Nirgendwo sonst in den Alpen gibt es mehr Steinadler

Auch der fast das ganze Karwendelgebirge umfassende Naturpark Karwendel wirbt damit, dass hier alle fünf majestätischen Bergtiere beheimatet sind. Ein spezielles Augenmerk liegt hier auf den Steinadlern. Zwischen Achensee und Ahornboden leben nämlich 14 Brutpaare, nirgendwo sonst in den Alpen gibt es mehr Steinadler als hier.

Beeindruckende Begegnung: die Spannweite eines Steinadlers beträgt rund zwei Meter.

Tipp: Die besten Chancen, einen der Greifvögel zu beobachten, haben Wanderer auf dem Weg zum Feilkopf. Im Sonnjochgebiet und auf der Nordkette wiederum stehen die Chancen gut, Steinböcke zu entdecken. Keine Selbstverständlichkeit, waren die Tiere im 17./18. Jahrhundert im Alpenraum fast vollständig ausgerottet. Umso erfreulicher, dass vielerorts die Wiederansiedelung gelang, heutzutage leben in den Tiroler Bergen wieder mehr als 5000 Individuen. Im Naturpark Karwendel bilden 1200 Exemplare die grösste Steinbockkolonie Österreichs.

Die geschickten und schnellen Bergkletterer sind auch in Osttirol, etwa am und rund um den Grossglockner, sowie im Naturpark Kaunergrat hundertfach zu finden. Gute Chancen auf eine Sichtung haben Wanderer bei ihrem Aufstieg zur Rüsselsheimer Hütte. Wer das Pech hat, keines der Tiere gesehen zu haben, schaut auf dem Rückweg in St. Leonhard vorbei. Im Sommer 2020 eröffnete dort das moderne Tiroler Steinbockzentrum, das neben einer Ausstellung ein eigenes Steinbockgehege samt Lehrpfad beherbergt. Auch im Kärntner Heiligenblut wurde vor Kurzem mit dem «Haus der Steinböcke» ein Besucher- und Informationszentrum eingeweiht.

Geführte Touren zu den Big Five

Wer übrigens in Deutschland sein Tierglück versuchen möchte, der reist am besten ins Allgäu, in den Naturpark Nagelfluhkette: Das Zentrum Naturerlebnis Alpin in Obermaiselstein bietet regelmässig geführte Touren zu den Big Five an.

Dass nicht noch mehr Alpenregionen mit den «Grossen Fünf» kokettieren, liegt in der Regel am Bartgeier – vermutlich der Grund, warum manche Big-Five-Liste stattdessen den Alpensalamander nennt. Vom grössten Greifvogel der Alpen gibt es zwischen Frankreich und Slowenien gerade einmal rund 340 Exemplare. Und das ist ohnehin ein Wunder, war der XXL-Vogel in den Alpen doch bereits restlos ausgerottet, bevor ihm jüngste Wiederansiedlungsprojekte zum Comeback verhalfen.

Die Schweiz ist unter den Alpenländern übrigens Spitzenreiterin bei der Wiederansiedlung von Bartgeiern. Seit der ersten erfolgreichen Brut im Jahr 2007 sind insgesamt 138 ausgeflogene Jungtiere gezählt worden. Allein 2022 kamen 21 hinzu, stark!

In der Schweiz gibt es wieder viele Bartgeier.

Für Aufregung sorgte auch die Entdeckung eines wilden, mit einem Junggeier besetzten Bartgeierhorstes im Naturpark Tiroler Lech 2019. Das Lechtal wird für Vogelliebhaber damit vollends zur wichtigsten Adresse zwischen Arlberg und Salzburg. Von den 150 Tiroler Brutvogelarten lassen sich dort 110 finden, was dem Gebiet zur international anerkannten Auszeichnung «Important Bird Area» verhalf. Wo genau sich der Horst der Bartgeier befindet, wird aus Artenschutzgründen nicht verraten.

Die Chance, die Geier bei einer Wanderung zu entdecken, ist dennoch nicht so klein: Mit bis zu drei Metern Flügelspannweite erkennt man den Greifvogel auch von weiter weg. Auf dem Vogelerlebnispfad Pflach erzählen Besucher immer wieder von Sichtungen, insbesondere wenn sie auf dem 18 Meter hohen Aussichtsturm stehen.

Wer im normalen Berggelände unterwegs ist und unvermittelt die Silhouette von Adler oder Geier über den Himmel ziehen sieht, freut sich vielleicht sogar noch mehr. Erst recht, wenn man auf der weiteren Tour auf einer Bergwiese die Murmeltierpfiffe vernimmt, eine Gamsherde in der Steilwand beobachtet oder die Erhabenheit des Steinbocks in der Ferne sind.

Gehören zu den besten Kletterern der Alpen, die Gämsen.

Warum diese Tiere ein solches Glücksgefühl auslösen? Lackners Erklärung lautet: «Die Big Five vereinen Heimatgefühl und Sehnsucht. Es ist einfach eine starke Kombination.»

Weitere Infos: www.hohetauern.at, www.kaunergrat.at, www.steinbockzentrum.tirol, www.naturpark-tiroler-lech.at, www.nationalpark.ch, nagelfluhkette.info