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Das Ithra, das «King Abdulaziz Center der Weltkultur» im saudischen Dammam, beherbergt nicht nur ein Museum für moderne Kunst, eine Bibliothek mit 350'000 Büchern, ein Kino und eine digitale Ideenschmiede, sondern auch einen Konzertsaal für 900 Menschen. Bild: Snohetta

Saudi-Arabien, die Kunst-Destination

Fabian von Poser

Weil das Öl endlich ist, investiert Saudi-Arabien Millionen in den Kulturtourismus – dabei waren Musik und Kunst im Königreich bis vor kurzem tabu.

Wer am späten Nachmittag von der Küstenstadt Dammam am Persischen Golf über achtspurige Highways in Richtung Süden fährt, dem erscheint das Ithra fast wie eine Fatamorgana. Aus dem Nichts erhebt sich das Gebäude 90 Meter hoch aus der Wüste. Das Thermometer zeigt noch 35 Grad an, die Luft ist feucht, der Himmel grau. Im letzten Licht des Tages steht das «King Abdulaziz Center der Weltkultur», auf Arabisch Ithra, da wie ein Wegweiser in eine neue Zeit: Seine Fassade strahlt Neonblau.

Von aussen mag der Bau im Vergleich zu anderen architektonischen Extravaganzen der Arabischen Halbinsel unauffällig erscheinen. Doch die klimatisierten Räume beherbergen nicht nur ein Museum für moderne Kunst, eine Bibliothek mit 350'000 Büchern, ein Kino und eine digitale Ideenschmiede, sondern auch einen Konzertsaal für 900 Menschen. Das London Symphony Orchestra, das Wiener Kammerorchester und das Mariinski-Orchester aus St. Petersburg waren schon zu Gast.

Als das 400 Millionen US-Dollar teure Ithra 2018 eröffnete, kürte es das US-amerikanische Magazin «Time» zu einem der «100 grossartigsten Orte der Welt». Seitdem hat der von der saudischen Ölgesellschaft Aramco in Auftrag gegebene Bau mehr als drei Millionen Besucher empfangen. Der Anspruch: Das Ithra will - nur wenige hundert Meter entfernt von jener Stelle, an der 1938 das erste Öl gefunden wurde - nichts Geringeres sein als «das kulturelle Zentrum Saudi-Arabiens».

Doch wie kommt es, dass Kunst, Musik und Film, im konservativen Saudi-Arabien bis vor Kurzem noch «haram», also verwerflich, nun so gefeiert werden? In einem hellen Raum im Erdgeschoss des Ithra steht Ashraf Al-Fagih. Die Luft ist auf 20 Grad heruntergekühlt, die Sofas aus Leder, ein Bediensteter serviert arabischen Kaffee. «Es gibt in unserem Land eine ungeheure Dynamik», sagt der saudische Buchautor und ehemalige Ithra-Programmchef. «Wir handeln immer noch mit Energie. Heute allerdings mit menschlicher Energie. Unsere Zukunft liegt in der Kreativität.»

2019 zählte das Königreich 20 Millionen Besucher

Saudi-Arabien ist eine sonnenverbrannte Welt. 52 Mal so gross wie die Schweiz, lebten in dem Wüstenstaat lange Zeit vor allem Beduinen. Bis das erste Öl gefunden wurde. Seitdem ging es steil bergauf. Mithilfe der Petrodollar modernisierte die herrschende Al-Saud-Familie ihr Land. Allerdings waren konservative Geistliche gegen diese Entwicklung. Sie wollten die wahabitische Wende. 1979 entlud sich der Streit zugunsten der Kleriker. Danach schottete sich das Land ab.

Bis heute gilt im Königreich das islamische Recht der Scharia. Die gefürchtete Sittenpolizei überwachte die Einhaltung der Kleider- und Verhaltensvorschriften in der Öffentlichkeit mehr als 30 Jahre lang streng. Frauen hatten so gut wie keine Rechte. Doch seit klar ist, dass das Erdöl endlich ist, versucht die Regierung das Land zu öffnen und die Wirtschaft zu diversifizieren.

2016 stellte der allmächtige Kronprinz Mohammed bin Salman die «Vision 2030» vor. Das Strategieprogramm skizziert den Weg zur Öffnung für Handel, Tourismus und Kultur. 2019 zählte das Königreich 20 Millionen Besucher, damals allerdings fast ausschliesslich muslimische Pilger nach Mekka und Medina. 2020 waren es immerhin zwölf Millionen - trotz Pandemie. Bis 2030 soll die Zahl auf 100 Millionen wachsen. Damit das gelingt, baut die Regierung historische Stätten wie AlUla mit der 2000 Jahre alten Nabatäer-Stadt Hegra aus, schafft gigantische neue Städte wie die nachhaltige Planstadt Neom am Roten Meer, luxuriöse Baderesorts wie Amlaa etwa 150 Kilometer weiter südlich, das Red Sea Project, wo bis 2030 48 Hotels entstehen sollen, und mit «Trojena» im Nordwesten des Landes sogar ein eigenes Skigebiet. Und sie fördert den Kulturtourismus.

Ungestörte Ruhe inmitten der weiten Wüste und Naturschätzen: in Al-'Ula fühlen sich Besucherinnen und Besucher wie vor 7000 Jahren. Bild: visitsaudi.com

Doch es ist ein holpriger Start in die Zukunft: Zwar gibt es die strenge Sittenpolizei nicht mehr. Die Bürger haben Zugang zu Facebook, Instagram und Twitter, es gibt Amazon und Apple-Stores, die Regierung schafft freie Märkte und fördert mehr Eigeninitiative der Bürger und für Frauen löst sich manche Fessel. Aber die brutale Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen Generalkonsulat in Istanbul führte zu internationaler Ächtung. Auch das harte Vorgehen der Regierung gegen Oppositionelle und brutale Massenhinrichtungen stossen im Ausland auf Widerstand, auch bei Investoren.

Saudi-Arabien öffnet sich in vielen Bereichen

Wie passt all das zur neu entdeckten Liebe zur Kultur? «Die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar haben es vorgemacht: Imagepflege über Kunst und Kultur», sagt die Journalistin Mona El-Naggar, die heute in Kairo arbeitet. All das zeigt die zwei Gesichter des Kronprinzen: Auf der einen Seite ist da der radikale Reformer, der mit alten Traditionen bricht und die Kleriker entmachtet. Auf der anderen der autokratische Herrscher, der quasi im Alleingang bestimmt, was in seinem Land passiert. «Zwar ist Autofahren für Frauen mittlerweile erlaubt, aber viele andere Rechte wie etwa freie Meinungsäusserung nicht», sagt El-Naggar. «Kunst wird gefördert, aber es herrscht eine strenge Zensur.»

Saudi-Arabien tut alles, um sein kulturelles Image aufzupolieren: Die jedes Jahr im Herbst abgehaltene Riyadh International Book Fair, die Buchmesse der Hauptstadt, zählte 2022 mehr als eine Millionen Besucher, die erste Diriyah Contemporary Art Biennale mehr als 100'000. Eines der grössten Projekte ist «Riyadh Art». Es setzt sich aus zahlreichen unterschiedlichen Programmen und Veranstaltungen zusammen, darunter auch das Tuwaiq International Sculpture Symposium. Neues Selbstbewusstsein schöpfen vor allem die saudischen Frauen. So wie Wafa Al-Qunibit. Die Künstlerin wurde in Taif im Südwesten des Landes geboren. 2016 absolvierte sie ihren Master in Bildhauerei am Savannah College of Art and Design in Atlanta in den USA.«Indem ich meine Kunst auf dem Festival präsentiere, trage ich die Botschaft in die Welt, dass wir saudischen Frauen im Stande sind, Grossartiges zu leisten», sagt Al-Qunibit.

Saudi-Arabien öffnet sich in vielen Bereichen. An der Corniche von Dammam unweit des Ithra breiten schon am frühen Nachmittag Menschen ihre Picknickdecken im Park aus: Kaffee von Starbucks, Burger von McDonalds, Coca Cola. Auf einem Wolkenkratzer: Werbung für das neueste iPhone, dicke deutsche SUVs und Ikea. Vor allem die junge Generation unterstützt den allmächtigen Kronprinzen Mohammed bin Salman. «In Saudi-Arabien werden die alten Köpfe gerade von jungen abgelöst. Viele von ihnen haben im Westen studiert», sagt die Islamwissenschaftlerin Stefanie Gsell von der Julius-Maximilians-Universität in Würzburg. «Sie denken, dass Saudi-Arabien ins Hintertreffen gerät, wenn es weiter so traditionsverhaftet bleibt.»

Das ganze Land, so scheint es, hat nur auf die grüne Ampel von oben gewartet. Die Demographie tut ihr Übriges dafür, dass die Regierung die Reformen vorantreibt, denn 70 Prozent der saudischen Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt. «Unsere Gesellschaft ist jung, offen und blickt optimistisch in die Zukunft», sagt Ashraf Al-Fagih. «Bei Euch gibt es Theater, Museen und Kinos seit Jahrzehnten. Hier entsteht das alles erst jetzt.» Am späten Abend, im Taxi vom Ithra zurück in die Stadt, leuchtet das gewaltige Gebäude grell im Rückspiegel - fast wie ein Raumschiff, das eben erst gelandet ist.