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Bangkok verändert sich markant, lässt sich vom Chao Praya auf einer Bootstour feststellen. Bild: Adobe Stock

Hat Bangkok seinen Charme verloren?

Bernd Linnhoff

Thailand-Korrespondent Bernd Linnhoff fragt sich während einer Entdeckungstour, ob in Bangkok die Identität und der ursprüngliche Reiz auf der Strecke bleibt.

«Schaut mal, da reissen sie die alten Häuser ab!», rief die Frau neben mir, «gerade die machen Bangkoks Atmosphäre doch aus!» Wir fuhren mit dem Expressboot über den Chao Praya, den Fluss der Könige, zur Anlegestelle Tha Tien, um mal wieder den Grossen Palast und Wat Pho zu besuchen, den Tempel des liegenden Buddhas. Und ja, am Ufer wurden ein paar alte Häuser abgerissen. Sie konnten kaum noch auf den eigenen Stelzen stehen, das Husten eines Baggers genügte, um die marode Konstruktion in ein Puzzle aus Splittern zu verwandeln. Aus Sicht der Touristin jedoch verdienten diese Unterkünfte das Prädikat «Besonders wertvoll»: Sie waren authentisch.

Wir hängen an dem, was wir mögen. Wie so viele Touristen aus Europa oder den USA wollte auch meine Nachbarin ihre romantische Perspektive bestätigt sehen. Den Charme des alten Bangkok vorfinden, das Zurückgebliebene, Exotische. Die Moderne mit ihren genormten Zweckbauten und dem Zwang, jeden Hauch von Schönheit der Effizienz zu opfern, kannte meine Nachbarin von daheim.

In meinen 14 Jahren in Südostasien habe ich gelernt, erst einmal durch die Augen der Einheimischen zu schauen. Mal ehrlich: Welcher Westler würde gerne in einer dieser authentischen Bruchbuden wohnen? Wer wünscht sich wirklich die Zeit zurück, als die Gummistiefel noch aus Holz waren? Können Bangkoks Garküchen nicht vielleicht doch in zugewiesenen Reservaten florieren und nicht nur auf den engen Bürgersteigen? Müssen die Bangkokians für uns Ausländer Atmosphäre spielen? Oder geht es vielleicht doch um bessere Lebensverhältnisse für die Bewohner, um Würde letzlich?

Einblicke bei einer Bootsfahrt auf dem Chao Praya. Vermehrt weichen alte Häuser Wolkenkratzern. Bild: BLI

Kein Chinese, keine Kambodschanerin, kein Indonesier auf Stippvisite in Thailands Hauptstadt käme auf die Idee, den Abbruch windschiefer Hütten zu beklagen. Alt gilt vielen Asiaten, gerade auch Politikern und Unternehmern, als rückständig, überholt, peinlich manchmal. Sie schauen nach vorn, wollen auf der Höhe der Zeit sein. Wenn sie am Westen etwas bewundern, dann Wirtschaftskraft und materiellen Wohlstand. Dennoch bleibt die Frage: Ist Bangkok auf dem Weg, seine Identität zu verlieren? In Glas und Stahl zu verschwinden? Zu werden wie Singapur, nicht nur sauber, sondern rein? Was ging bereits verloren an historischem Erbe, welchen architektonischen Juwelen droht Gefahr?

Wo einst Reis gepflanzt wurde, steht nun ein Wolkenkratzer

Die immobilen Zeugen des alten Bangkok kämpfen ums Überleben, das ist Fakt. Manchmal haben sie ihre Zukunft hinter sich, oder die lokale Politik geht mit dem Vermächtnis schludrig um. Anders als in Singapur gibt es keine erkennbare Planung, eine Balance zu finden zwischen notwendiger Moderne und Konservierung historischer Preziosen. Wenn Abrissbirne und Schaufelbagger Profit versprechen, werden alte Schätzchen humorlos plattgewalzt. Um Platz zu machen für ein weiteres Hotel, ein noch höheres Apartmenthaus, das nächste tolle Einkaufszentrum. Corona sedierte die Immobilienszene ein wenig, nun tanzen die Baukräne wieder. Bangkoks Skyline verändert sich Jahr um Jahr. Nach dem Ausbau der Skytrain-Verbindungen verlagern sich viele Projekte an die Ränder der Stadt. Wo einst Reis gepflanzt wurde, steht nun ein Wolkenkratzer. Wen stört es schon, dass Thailands Hauptstadt weiterhin sinkt, um 1,2 Zentimeter jedes Jahr?

Papa ist tot: Noch heute trauere ich um das Hemingway`s in der Sukhumvit Soi 14. Mehrfach ausgezeichnet, erinnerte das Restaurant an ein Bangkok, das seine Ikonen schätzte. In Bangkok war „Papa“ Hemingway nie. Doch sein unruhiger Geist waberte durch die diversen Stockwerke eines tropischen Herrenhauses, dessen verschachtelte Räume nach Stationen seines Lebens benannt wurden: Havana Bar, Safari Sports Bar, Spanish Garden, Key West Café. Die Romeo y Julieta Belicosos wurde auf dem Cigar Deck geraucht, der Red Snapper auf dem Marlin Boulevard serviert. Einst diente das hundert Jahre alte Teakhaus einheimischen Adligen und ausländischen Diplomaten als feudale Residenz, inmitten der Kanäle im Venedig des Fernen Ostens, als die Wasserwege noch nicht betoniert waren. Im Herzen der Stadt war das Hemingway`s einer der schönsten und beliebtesten Treffpunkte für Thais und Expats. Schauplatz zahlloser Geburtstagspartys, romantisches Szenenbild für Verlobungen und Hochzeitsfeiern.

2016 wurde es zertrümmert, weil japanische Projektentwickler dort ein 27-stöckiges Hotel bauten. Eine notgedrungen bemühte Kopie des Hemingway`s steht nun in der Sukhumvit Road Soi 11.

Architektonisches Tafelsilber

Immer besser ausgebildete, finanzkräftige, kreative Thais, und das ist die gute Nachricht, entdecken inzwischen den Wert ihres architektonischen Tafelsilbers, nicht nur für Touristen. Niemand hatte mit dem öffentlichen Widerstand gerechnet, als dem Hauptbahnhof Hua Lamphong nach mehr als 100 Jahren Dienst die Endstation drohte: Schutt und Asche. Vom italienischen Architekten Mario Tamagno im Neorenaissance-Stil erbaut, war Hua Lamphong einer der umtriebigsten Bahnhöfe Südostasiens.

Bangkoks Hauptbahnhof Hua Lamphong hat nach mehr als 100 Jahren seinen Dienst aufgegeben. Bild: BLI

Eine Attraktion, die Junggebliebene mit Legosteinen nachbauten. Seit Januar 2023 starten die Langstreckenzüge, die Bangkok mit dem Rest des Landes verbinden, vom neuen Hauptbahnhof aus, dem Krung Thep Aphiwat Central Terminal, auch bekannt als Bang Sue Grand Station. Der neue Bahnhof – Glas, Stahl, mehrere Ebenen - könnte irgendwo in Europa stehen. Dank der Proteste endet Hua Lamphong, wenn auch die Kurzstrecken anderswo starten und enden, mit seiner einzigartigen Fassade vielleicht als Eisenbahnmuseum.

Jede Metropole verändert sich. Historische Substanz in neuer Funktion, das könnte doch der Königsweg sein, die Identität zu wahren, unverwechselbar zu bleiben. Die Moderne ist nicht der Feind. Wenn sie so aussieht wie das Maha Nakhon Bauwerk, schafft sie neue Ikonen.

Das 310 Meter hohe Maha Nakhon Bauwerk überrascht mit einer Pixel-Architektur. Bild: Adobe Stock

Es ist nicht nur mit 310 Metern das höchste Gebäude der Stadt; dank seiner ungewöhnlichen Pixel-Architektur auf halber Höhe schaut jeder zweimal hin und fragt sich: Ist der Bau etwa schwerbeschädigt? Big Mango vs. Big Apple: Bangkok wird oft mit New York verglichen. Schmelztiegel vieler Ethnien, populäres Reiseziel und ein oft umbarmherziger Ort für die, die dort ihren Lebensunterhalt verdienen. Shopping Malls mit den sattsam bekannten internationalen Marken.  Laut, überdreht, animierend, hart, manchmal herzlich, selten cool, nie verzagt. Wo aber ist es immer noch und unübersehbar Asien?

Ein neues Zentrum, der Kreative Distrikt

Vom Bahnhof Hua Lamphong erreichen wir zu Fuss oder mit dem Tuktuk, was wir suchen. Bangkoks älteste Strasse, die Charoenkrung Road, schlängelt sich durch Bang Rak, Chinatown bis hin zum Viertel Rattanakosin. Entlang der Strasse und in ihren Sois, den Nebenstrassen, enstand ein neues Zentrum, der Kreative Distrikt. Lange war dort nichts passiert ausser fortschreitendem Verfall. Zwischen alternden chinesischen Ladenhäusern, zwischen Imbisswagen und Mechanikerwerkstätten stehen nun Galerien, Cafés oder Restaurants wie das Samlor oder der Small Dinner Club des früheren Mönchs Sareen Rojanamatin. Eine Verschmelzung von Gestern und Heute, nur hier möglich, nicht zu kopieren. «Es ist wie mit der Farbe Rot», sagt Duangrit Bunnag, «jeder weiss, was die Farbe Rot ist, aber keiner kann sie beschreiben. Die neuen Plätze sind mehr ein Gefühl, ein Lebensstil.» Der renommierte Architekt ist einer der massgeblichen Initiatoren einer Gemeinschaft von einheimischen Machern, Unternehmern und Kreativen, die im Neuen das Alte erhalten wollen.

Das ehemalige Postamt im Art Deco Stil, nicht weit entfernt vom Chao Praya und den Luxushotels Mandarin Oriental und Shangri-La, wurde renoviert und als Thailand Creative & Design Center, kurz TCDC, wieder eröffnet. Auf fünf Stockwerken finden hier nun Ausstellungen und Vorführungen statt.

In der Charoenkrung Road 30 vereint das 2017 eröffnete Warehouse 30, beheimatet in einem ehemaligen Lagerhaus aus dem 2. Weltkrieg, Künstler, Galerien, Klamotten- und Trödelläden. Das Treiben in Chinatown, in der Yaowarat Road und den zahllosen Gassen links und rechts, ist noch immer so wuselig wie vor zehn Jahren. Sollte hier eine Modernisierung stattgefunden haben, habe ich sie nicht mitbekommen. In Rattanakosin, dem usprünglichen Bangkok, gibt es unweit des Backpacker-Treffpunkts Khao San Road noch immer Ecken, in die sich kein Tourist verirrt.

In der Charoenkrug Road aber passiert das, was immer passiert, wenn ein Geheimtipp zur gewöhnlichen Empfehlung schrumpft. Je mehr BesucherInnen dort auftauchen, umso stärker verändert sich das Leben der Alteingesessenen. Auch weil sie plötzlich neue Einkommensquellen entdecken oder für ihre Produkte höhere Preise verlangen können.

Letztlich landen wir halt immer beim Buddha: Veränderung ist die einzige Konstante. Aber nicht notwendigerweise ein Verlust.