Here & There
Die frische Alternative zum Mittelmeer
Christian BerzinsSchöne Aussichten ... Als wir am vierten Tag unserer Baltikumreise mit der Fähre ins Meer stechen, um auf eine sagenumwobene estnische Insel mit einem legendären und eigenwilligen Völkchen zu treffen, lesen wir auf dem News-Ticker, dass Putins Riesen-U-Boot Belgorod unterwegs in der Ostsee sei. Es ist nicht das letzte Mal, dass der Krieg auf dieser Reise auftaucht, auch nicht, dass wir über Putin fluchen. Aber kaum an Land ist es an Mare, diesen Part zu übernehmen. Die Flüche dieser Insel-Kennerin gelten allerdings der EU: An allem, was auf Kihnu verändert wurde, sei sie schuld: Könnte aber gut sein, dass man es trotzdem tut. Vor «Gefahren», die vom Festland kommen, werden die 701 Einwohner nämlich gewarnt, dank einer App wissen alle, ob die Polizei unterwegs ist.
Als habe uns Mare mit den Eiern nicht schon genug hungrig gemacht, erzählt sie alsbald vom Robbenfang. Auf die scheue Nachfrage, ob das denn heute noch erlaubt sei, ernten wir ein «ja klar». Auch wegen der lebendigen Traditionen ist Kihnu auf der Unesco-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit gelandet. Doch wer redet denn von Robben: Karvakala heisst hier das Tier, «Fellfisch». Als wir im Tante-Emma-Laden fragen, ob es diese «Fellfische» hier gäbe, werden wir auf die Marktstände am Hafen verwiesen. Und tatsächlich: Neben dem Stand mit den verlockenden Hering-Brötchen streckt uns die Marktfrau eine Dose entgegen.
Auf der Rückfahrt nach Pärnu füllen wir unseren Picknick-Korb mit noch mehr Köstlichkeiten: In Küstennähe gibt es im ganzen Baltikum Marktstände mit sensationellem Räucherfisch: Zander, Aale, Barsche, Zährten und Plattfische sind im Angebot.
Am nächsten Tag werden sie mit Gurken und Tomaten aufgetischt, auch Kartoffelsalat steht da, lettisches Bier und estnischer Apfelwein werden dazu getrunken. Den «Wein» haben wir auf dem Weingut «Pootsi» gekauft: Vom Sekt bis zum Eiswein reicht bei den Weingütern die Palette – mal sind Beeren, mal Äpfel die Grundlage. Lokale Biere halten im Weltvergleich besser mit, die lettischen sind noch besser als jene aus Estland.
Brüderlich, schwesterlich, feindverliebt
So brüder- und schwesterlich sich die baltischen Staaten gegen Russland stemmen, so feindverliebt ist man untereinander – dass die Letten das bessere Bier brauen, glaubt in Estland niemand. Wie auch? Die Letten, so erzählt man es den estnischen Kindern, hätten ja sechs Zehen. Die echten Unterschiede liegen im Detail: Lettische Piragi (Speck-Gipfel) etwa sind etwas ganz anderes als die estnischen Pirukas (mit Hackfleisch gefüllt).
In Pärnu, der 50 000 Einwohner zählenden Küstenstadt Estlands, spazieren wir dem Strand entlang in die Abendsonne. Die 1251 vom Deutschen Ritterorden gegründete Stadt ist geprägt durch langgezogene Alleen, schlaftrunkene Pärke und prächtige Altstadtstrassen. Die Holzhäuschen und Holzvillen sind so schmuck, dass sie aus der Augsburger Puppenkiste zu stammen scheinen. Protagonist ist aber der Strand mit Hüpfburg, Lounges, Surf-Club, Zeltplatz, Volleyballfeld, Elefantenrutschbahn, Dünen – und der Sicht ans Ende der Welt.
Wer sich hier am Morgen für 7 Euro eine weisse Liege geschnappt hat und nun einen Sonnenschirm sucht, outet sich als Mittelmeer-Warmduscher. Eine Anzeige beim Bademeisterturm informiert nicht nur über Luft- und Wassertemperatur, sondern auch über die Stärke oder eben die Schwäche der UV-Strahlen.
Wer um sich blickt, merkt, dass man sich wohl zu Unrecht Sorgen macht. Im Unterschied zum hochgetrimmten Mittelmeer-Strand braucht sich hier niemand für seine weisse Haut und den Bauch oder das Bäuchlein zu schämen. Der estnische Strand ist kein Catwalk, hier fühlt man sich bisweilen wie an einem Kinderbecken für Erwachsene. Die Hotels besetzen keine Strandabschnitte, es herrscht ein buntes Durcheinander.
Rundum ist alles vergnügt, obwohl es gerade mal 19 Grad warm ist – die Luft. Das hat den Vorteil, dass man das 20 Grad kalte Wasser als angenehm warm empfindet. Simona vom Tourismusbüro findet diese Bemerkung gar nicht lustig: «Oft ist es bei uns 30 Grad warm – dieser Tage haben wir etwas Pech.»
Ich glaube ihr, geniesse aber trotzdem die Schlagzeile der Schweizer Sonntagspresse «Touristen wird es am Mittelmeer zu heiss» und ziehe mein T-Shirt an. Die Esten haben für einen frischen Tag am Meer ein Wort, sie nehmen dann eine «Wolkenwanne».
Völlig egal, es gibt ja die Sauna im SPA. Nicht nur die Finnen sind scharf auf solche Hotels. Eine immer wiederkehrende Frage an den Gast lautet: «Haben eure Hotels in der Schweiz Saunas?» Bloss ein Schweizer findet die Qualität der SPA-Landschaften bisweilen unproportional hoch im Gegensatz zum Frühstücksbuffet.
Lüftchen hin oder her: Gruppen von älteren Einheimischen nehmen zeitig die Holzbänke in Beschlag, verwandeln sie alsbald zum Buffet. Omas halten ihre zu hütende Kinderschar an, nicht weiter hinauszugehen, als dass der Kleinste den Bauchnabel im Wasser hat. Auch so kommen die Kleinen ziemlich weit raus. Und so versteht man, warum das Tun hier nicht schwimmen, sondern suplema heisst: Baden. Oder eher «bädele».
Im lettischen Jurmala ist das trotz Beinamen wie «St-Tropez des Baltikums» nicht viel anders. Vor 100 Jahren wurden die Herren- und Damenschaften mit einer Art Kutsche ins Wasser rausgefahren, dorthin, wo es tiefer wurde. Die Stadt war schon im russischen Zarenreich, später in der Sowjetunion als Stranddestination berühmt, ist heute noch russischer Sehnsuchtsort. Wie ein Sowjet-Mahnmal ragt das Baltic Beach Hotel über die Dünen hinweg in den Strand hinaus.
Dicke orange Teppiche zieren die langen Gänge, die in immer neue Säle führen, aus den Lautsprechern erklingt am Morgen Tanzmusik, und gleich neben der Lobby steht ein Alkoholladen, wo es sowohl 500 Euro teure Cognacs als Aktionsbier für 39 Cent gibt.
Jurmalas Strand erstreckt sich über 25 Kilometer. Solange nicht gerade halb Riga da ist, gibt es Platz. Die Hauptstadt mit einer Million Einwohnern ist bloss 20 Kilometer entfernt, mit Bus, Zug, Velo und Taxi in 30 Minuten erreichbar.
Seit vier Jahren ist in Pärnu auch vermehrt schweizerdeutsch zu hören, bringt doch Zürichs Tonhalle-Chefdirigent Paavo Järvi einen Fanclub und ein paar Musiker mit an das seit 2011 bestehende Pärnu Music Festival.
Schon in Sowjetzeiten kamen Musik-, ja Kulturgrössen in die Stadt, wo man freier reden konnte. Doch mit diesen Zeiten will man nichts zu tun haben, auch wenn hier weiterhin russische Musik gespielt wird. Die meisten Orchestermusiker tragen ein gelbblaues Emblem über dem Herzen, auch Paavo Järvi. Gefragt, ob das Festival anders als die vorherigen sei, sagt er: «Obwohl sich das Festival musikalisch nicht anders anfühlte als in den Vorjahren: Der Druck und die Angst vor dem Krieg sind unglaublich nah und allgegenwärtig. Freunde aus der ganzen Welt zusammenzubringen, um gemeinsam Musik in Estland zu machen, fühlt sich wichtiger denn je an.»
«Alles ausverkauft» heisst es beim Sinfoniekonzert: Zuckerbrot gibt es keines, zum Abschluss aber die Lemminkäinen-Suite von Jean Sibelius, ein zum Glück ewig dauerndes Werk. Das mit Top-Musikern aus dem Järvi-Kreis zusammengestellte Festivalorchester strahlt jene lustvolle Kraft aus, die einst das Lucerne Festival Orchestra auszeichnete: Ein ungemeiner Wille, dem Dirigenten und dem Publikum zu zeigen, dass man Weltklasse ist.
Festival in Pärnu
Eine Stunde früher als am Vorabend ist das Konzert aus – um 22.45 Uhr. Und ja: Das Konzert mit allen Dirigenten und Dirigentinnen des Meisterkurses dauerte 3 Stunden und 45 Minuten. So geht eben Festival in Pärnu. Anders – wilder, verrückter – als im Saison-Trott. Niemand stört sich daran, im Gegenteil. Das Konzert der famosen Estonian Voices wird zur Gartenparty: Erst wird im Park gegessen und getrunken, alsbald getanzt.
Erst staunt der Gast über das unglaubliche Pensum, das Dirigent Paavo Järvi ablegt, dann über die nimmermüden Orchestermusiker, die sich in Kammermusikkonzerten oder in Chor-Abenden zusätzlich zu den Sinfoniekonzerten auszeichnen – und trotzdem eine wochenlange Party feiern.
Wer um 2 Uhr nachts im «Passion»-Kaffee vorbeischaut, trifft das halbe Baltikum, das etwas mit Musik zu tun hat. Man kann hier genauso gut über estnische Komponisten als auch über estnisches Bier diskutieren. Benjamin Nyffenegger, Solo-Cellist im Tonhalle-Orchester, steht an der Bar, Gilad Karni, Tonhalle-Bratscher, im Freien.
Auch Jurmala kennt ein reiches Kulturprogramm, Verbier-Festival-Intendant Engstroem hatte gar ein neues Festival lanciert. 2022 wurde es abgesagt, da zu viel russisches Geld drinsteckt. Für Ersatz wurde schnell gesorgt.
In der seitlich geöffneten Dzintari-Konzerthalle, die 3000 Leute fasst, treten Klassikstars wie Elina Garanca, Orchester und Pop-Sänger auf. Unser Abend ist der beliebteste des Sommers: «Goldenes Mikrofon» heisst er und versammelt alles, was im lettischen Pop Rang und Namen hat – auch die Eurovision-Songcontest-Teilnehmer spielen auf. Die Damen sind aufgebrezelt, als ginge es zur Scala-Eröffnung: die Absätze hoch wie Champagnergläser, die Kleider lang wie Palastvorhänge.
2022 überrascht Jurmala zudem mit einer Kunst-Sensation: Der Schweizer Installationskünstler Thomas Hirschhorn hat zwei grosse Räume eines historischen Bahnhofs ausgestaltet und ein täglich wachsendes Kunstchaos mit der einen Botschaft errichtet: «Gegen den Krieg». So simpel die Botschaft, so gross seine Geste: Weil Lettland an der Grenze zu Russland liegt, tat er es gratis. Anders, so verrät uns die Kuratorin, wäre es für sie völlig unmöglich gewesen, ihn zu kriegen. Nun aber ist er täglich im Stream, schaut, was in «seiner» Ausstellung geht. Die Haltung zu Putin ist hier klar – mal einfach mit «Fuck Putin», mal kunstvoller mit einer derben Zeichnung ausgedrückt.
Stand-up-Paddle-Fahrt zum Morgenaufgang
Ausschliesslich Letten tauchen am nächsten Morgen um 4 Uhr in den Sümpfen des Nationalparks von Kemeri auf. Keine paramilitärische Übung, sondern eine Kanu- beziehungsweise Stand-up-Paddle-Fahrt zum Morgenaufgang durch endloses Schilf und Wasser, wie es selbst für Balten spektakulär ist.
Die Kraniche schreien, die Wasserspinnen tanzen – und wir gleiten seelenruhig übers Wasser. Dass sich der Sonnenaufgang ein paar Minuten verschiebt, da sich ausgerechnet um 5.15 Uhr ein paar Wolken am Horizont treffen, ist völlig egal. Nach zwei Stunden ist jeder und jede glücklich, keiner ins Wasser gefallen. «Es passiert Frauen vor allem beim Selfie-Machen, Männern nach einer Stunde, wenn sie denken, sie könnten nun aufstehen», erzählt der Tourleiter lächelnd.
Um halb acht schläft man wieder im Hotelbett, drei Stunden später auf der Liege am Strand. Schöne Aussichten.
Weitere Infos zu Jurmala und Pärnu
Eine Baltikum-Reise startet in Riga. Air Baltic fliegt mehrmals wöchentlich von Zürich nach Riga. Man spaziert durch die Altstadt und das spannende Riga des frühen 20. Jahrhunderts, besucht den Zentralmarkt, das nationale Kunst- sowie das Okkupationsmuseum.
Hotels: Hedon SPA, Pärnu; Baltic Beach Hotel, Jurmala; Grand Poet Hotel, Riga; Hotel Neiburgs, Riga. In Pärnu und Jurmala gibt es auch zahlreiche Anbieter von Wohnungen in den historischen Holzhäusern.
Restaurants: Majorenhoff, Jurmala; House of Light Grill, Jurmala; Kinza House, Jurmala; Raimond im Hedon SPA, Pärnu; Pastoraat Cafe, Pärnu; Folkklubs Ala, Riga; 3 Pavaru, Riga. In Pärnu wie Jurmala sind traditionelle baltische Speisen nicht so einfach zu finden, aber da und dort gibt es Zander und Heringe, auch mal Hecht-Burger oder Gerichte mit Steinpilzen und Pfifferlingen. Überragend sind die vier Menüs im Restaurant Raimond in Pärnu.
Ausflüge: Sonnenaufgang-Tour: Advaitaadventures.lv, die Webseite ist lettisch, besser anrufen und englisch anmelden. Kihnu: Mit der Fähre ab Munalaiu (Bus oder Mietauto ab Pärnu). Pärnu Music Festival, ca. 10 Tage Mitte Juli: Orchesterkonzerte und Kammermusik.
Die Seiten www.latvia.travel und www.visitestonia.com bieten gute Tipps für die Reise.
(Diese Reportage von CH-Media-Autor Christian Berzins erschien zunächst in der «Schweiz am Wochenende».)