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Emma Arvidsson ist Head of CR bei Kuoni. Bild: isr

«Wir brauchen eine nachhaltige Ausgestaltung des Massentourismus»

Isabell Ridder

Emma Arvidsson ist seit 2018 Head of Corporate Responsibility aller Kuoni Marken. Travelnews traf die gebürtige Schwedin am Hauptsitz von Kuoni in Zürich-Altstetten zum Interview und sprach mit ihr über Kuonis Nachhaltigkeitsbemühungen, das neue Eigenlabel ‘engage’ und die Herausforderungen von Overtourism für den Tourismus.

Bei Kuoni und seinen Schwestermarken sind über 1‘000 nachhaltigkeitszertifizierte Produkte buchbar. Ist die Nachfrage so hoch?

Die Nachfrage ist schon da, aber die wenigsten Kunden kommen rein und sagen «Ich möchte eine nachhaltige Unterkunft buchen.» Sie sagen: «Ich suche ein Erlebnis nah bei den Menschen und möchte in die lokale Kultur eintauchen.» Sie suchen also eher das, was die Nachhaltigkeit ausmacht und nicht die Nachhaltigkeit an sich. Unsere Kundenberater erkennen anhand der Beschreibung die Wünsche und das Potenzial für eine nachhaltige Reise. Dann lenken sie die Kunden in diese Richtung.

Ist Nachhaltigkeit im Tourismus massentauglich?

Ja, denn nicht jeder kann oder will individuell reisen. Wir haben extrem viele Reisende weltweit und wir brauchen eine nachhaltige Ausgestaltung des Massentourismus und nicht nur der Individualreisen. Individualtouristen möchten alles auf eigene Faust erleben und schaden dabei manchmal unbewusst der Natur, weil sie beispielsweise abseits gekennzeichneter Wege laufen. Zum Beispiel in Island, wo kleine Pflanzen zerstört werden, wenn jeder seinen eigenen Trampelpfad macht.

Im Massentourismus kann man die Reisenden mit einem Guide viel mehr lenken. Sie können trotzdem die lokale Kultur entdecken. Wenn ein grosses Hotel lokale Energiemassnahmen umsetzt, den Speiseplan lokal ausrichtet und Personal lokal angestellt hat, hat es trotzdem eine positive Wirkung auf das lokale Leben der Destination

Ermuntert ihr Touristen so nicht sogar zum Reisen und gebt ihnen das Gefühl, dies mit reinem Gewissen zu tun?

Wir bevorzugen natürlich, wenn Fernstrecke-Gäste länger vor Ort bleiben, und nicht schon nach wenigen Tagen die Heim- oder Weiterreise antreten, also das Jet Setting reduzieren. Dafür bauen wir unsere Produkte so auf, dass Kundinnen und Kunden in einer Destination eine grosse Auswahl an buchbaren Erlebnissen zur Verfügung steht und sie länger verweilen. Bei den Fernreisen haben wir je nach Marke unterschiedliche Aufenthaltsdauern. Bei Dorado Latin Tours sind es etwa zwei bis drei Wochen.

Viele unserer Reiseberaterinnen und Reiseberater – einige von ihnen haben wir zu Nachhaltigkeits-Ambassadoren ausgebildet – empfehlen eine Verlängerung der Reisedauer, wenn eine Kundin für ein Wochenende nach New York fliegen möchte. Oder eine andere Destination. Innerhalb Europas ist die Kurzreise sicher vertretbarer, insbesondere dann, wenn Bahnanreisen gewählt werden.

«Man muss auch das Kundenbedürfnis beachten.»

Es klingt kurz, nur für zwei Wochen nach Südamerika zu fliegen. Wie ist die Nachfrage?

Kunden unserer Spezialistenmarken kombinieren oft Kultur- und Badeferien, daraus allein resultiert schon eine gewisse Aufenthaltsdauer. Und die zahlreichen Rundreisen sind nicht für Kurzaufenthalte ausgelegt. Wer sich zum Beispiel bei unserem Asien-Spezialisten asia365 für die indonesische Insel Flores entscheidet, hat gar nicht die Möglichkeit, nur einen kurzen Stopp vor Ort einzulegen und dann weiterzuziehen.

Bei Badeferien auf den Malediven beträgt die Gesamtreisedauer im Regelfall vielleicht nur bis zu zwei Wochen. Man kann die Reisedauer durch die Angebotsgestaltung etwas lenken. Aber man muss auch das Kundenbedürfnis beachten.

Findest du denn zwei Wochen schon nachhaltig für eine Reise?

Es gibt vom WWF eine Empfehlung, was ökologisch verantwortbar ist. Zum Beispiel sollte man für eine Strecke von Zürich bis Hamburg den Zug nehmen. Will man von Zürich etwa nach Nordschweden, sollte man dort eine Woche bleiben, in Asien dann schon drei Wochen. Es hängt auch davon ab, was Reisende finanzieren und wieviel Ferien sie überhaupt nehmen können. In der Schweiz können Arbeitnehmende oft nur zwei Wochen am Stück verreisen. Pensionierte sind eher länger unterwegs. Jetzt kommt auch der neue Trend Workation, also die Verknüpfung von Arbeit mit Ferien. Da kann man dann länger buchen.

«Unsere Produktmanager haben das notwendige Know-how, um die Nachhaltigkeit eines Produktes beurteilen zu können.»

Mit dem Eigenlabel «engage – people & planet» kennzeichnen die Kuoni-Veranstalter relevante Nachhaltigkeitsleistungen von touristischen Akteuren wie Unterkünfte oder Reedereien. Mittelfristig wollt ihr alle Kuoni Produkte mit dem Label auszeichnen. Warum habt ihr ein eigenes Label entwickelt?

Die 1000 ausgezeichneten Produkte sind einerseits zertifizierte Produkte gemäss GSTC (Global Sustainable Tourism Council, Anm. der Redaktion) – das ist eine Dachorganisation die wiederum Zertifizierungen wie Travelife anerkennt. Und einige von den Kuoni Spezialisten haben andererseits Unterkünfte ausgezeichnet, die nicht extern zertifiziert sind, aber die unsere Marken seit Jahren sehr gut kennen, und wissen, dass das Engagement wirklich ausgezeichnet ist. Das überprüfen sie dann auch selber durch Rekoreisen und Studienreisen.

Früher hatte Manta Reisen zum Beispiel vier unterschiedliche Labels. Wir hatten das Bedürfnis nach einem Dachlabel, das Orientierung im Label-Dschungel schafft. Ideal wäre, wenn GSTC, schon ein Label gehabt hätte. Aber da ein Branchenlabel nicht vorhanden ist, und unsere Kuoni Spezialisten viele kleine familiengeführte Unterkünfte im Sortiment haben, die nicht zertifiziert sind, und die dann aussen vor wären, haben wir mit engage ein eigenes Label entwickelt.

engage ist ein Label, das dunkel (Anm. der Red. «engage – extern zertifiziert») und hell (Anm. der Red. «engage – intern geprüft») abgedruckt werden kann. Das dunkelgrüne ist das Dachlabel. Das hellere wird von den Kuoni Spezialisten verwendet. Es wird dort genutzt, wo auf Empfehlung des Produktmanagers die Nachhaltigkeitskennzeichnung stattfindet. Wir nennen es das schwächere Label.

Besteht da nicht eine Verwechslungsgefahr?

Nur die interessierten Kunden werden den Unterschied sehen. Die andere sehen, dass das Produkt ausgezeichnet ist. Bei dem einen Zertifikat ist die Zertifizierung durch uns erfolgt. Nachhaltigkeitszertifizierungen sind relativ teuer und kleine familiengeführte Betriebe können sich das nicht immer leisten. Deshalb macht sich ein Produktmanager von uns vor Ort einen Eindruck vom Nachhaltigkeitsengagement und es ist dann seine Entscheidung, dieses Label einzusetzen.

Das eine Label bildet also unseren Eindruck und unsere Erfahrung ab und ist eine Hilfestellung für die, die sich die Zertifizierung nicht leisten können. Das andere ist eine Zusammenfassung von den anerkannten Zertifikaten. In unserem Katalog werden beide Labels erklärt. Die Verwechslungsgefahr ist da, aber die Botschaft ist die gleiche – es ist ein Produkt, das sich sehr stark mit Nachhaltigkeit auseinandersetzt. Die schwächer zertifizierten Produkte erleben die Kunden wahrscheinlich sogar noch als nachhaltiger, weil die Unterkunft familiengeführt ist.

Wie will Kuoni glaubwürdig und transparent bleiben, wenn Nachhaltigkeitsleistungen intern geprüft werden?

Unsere Produktmanager haben das notwendige Know-how, um die Nachhaltigkeit eines Produktes beurteilen zu können. Würden wir nur externe Zertifizierungen abbilden, hätten grosse Hotels einen Wettbewerbsvorteil, weil diese eher über die notwendigen Ressourcen verfügen, um einen umfangreichen Zertifizierungsprozess zu durchlaufen.

«Der Tourismus hat das Potenzial sehr viel Negatives zu bewirken.»

Wie unabhängig sind die Labels?

Die Dachorganisation GSTC überprüft, die einzelnen Zertifizierungen. Funktioniert das Monitoring, wird es wirklich von dritter Hand überprüft? Und alle Zertifizierungen, die GSTC anerkennt, nehmen wir unter unser Dachlabel engage auf. Das ist eine visuelle Hilfe für den Kunden, um zu sehen: Okay, dieses Produkt wurde extern geprüft. Man muss hinschreiben, welche Zertifizierung genau dahintersteckt. Es ist also eine sichtbare Markierung für den Kunden: Das hier ist ein nachhaltiges Produkt. Es ist keine Kontrolle, sondern sagt nur: GSTC anerkannt, ja oder nein?

Kontiki hat 17 eigene Nachhaltigkeitsversprechen formuliert, die bis 2030 erfüllt werden sollen. Das klingt nach sehr ambitionierten Zielen.

Kontiki möchte der nachhaltigste Reiseveranstalter für den Norden werden. Wir haben bereits Massnahmen im Bereich Walbeobachtungen oder dem Konsum von Walfleisch umgesetzt und auch für ihr Nachhaltigkeit ausgezeichnete Rundreisen im Sortiment. Aber wir haben gemerkt, wenn man die Nachhaltigkeit umfassend umsetzen will, muss dies systematisch geschehen. Deshalb haben wir uns an den 17 Zielen der UNO für eine nachhaltige Entwicklung ausgerichtet. Sie bieten ein umfassendes Verständnis der Nachhaltigkeit und die ganze Breite und Vielfalt der Themen.

Natürlich liegt unsere grösste Aufmerksamkeit auf 17 Zielen, bei denen wir am meisten bewegen können. Gleichzeitig haben wir gesagt, wenn wir schon so eine Vision haben, dann müssen wir ehrgeiziger sein und können nicht nur cherry picking betreiben, sondern leisten zu allen 17 Versprechen einen Beitrag. Teilweise wird er nicht riesig sein. Es ist dann vielleicht nur eine Mitarbeiter- oder Kundenaktion, ein Sponsoring oder eine Spende. Aber bei anderen Zielen geht es bis tief ins Produkt rein. Für jedes UNO-Ziel leisten wir einen Beitrag und wollen in unserem Wirkungsbereich einen positiven Wandel herbeiführen

«Marketing ist entscheidend.»

Braucht es denn den Tourismus, der vor Ort sagt, wie es zu laufen hat?

Der Tourismus hat das Potenzial sehr viel Negatives zu bewirken. Also die Umwelt zu zerstören, die lokale Kultur zu bedrohen und so weiter. Um die nachhaltige Gestaltung des Tourismus zu ermöglichen, braucht es ein Zusammenspiel der Destination und aller Unternehmen entlang der touristischen Wertschöpfungskette. Nur wenn alle auf das gleiche Ziel hinarbeiten, ist dieser Wandel möglich.

Wieso habt ihr mit den Destinationsentwicklungsprojekten begonnen?

Die Touristen gehen dorthin, wo sie denken, dass man ihre Reisewünsche erfüllt. Das heisst, das Marketing ist entscheidend: «wie stellt sich eine Destination dar, wie einfach gelangt man dort hin?« Und viele Destinationen gestalten das positiv. Sie ermöglichen ein schönes touristisches Erlebnis, das die Kultur und die Umwelt schützt. Auch zukünftigen Generationen soll das Reisen offenstehen. Das ist nur möglich, wenn man zusammenarbeitet. Deshalb unterstützen wir Destinationen bei einer nachhaltigen Tourismuserschliessung, in den letzten Jahren auf Flores (Indonesien) mit asia365, jetzt im europäischen Norden mit Kontiki. Wobei wir den Destinationen nie sagen, was sie tun müssen.

Welche Destination wir aussuchen, ist teilweise opportunitätsgetrieben. Es gibt auch Destination, die uns ansprechen und sagen, «hey, wir fänden es super, wenn eure Kunden zu uns kommen.» Zum Beispiel ist Nordisland auf uns zugekommen und hat gesagt, «wir sehen ein grosses Potenzial für eure Kunden bei uns». Wir begleiten ihren Destinationsprozess und zeigen dabei auf, was es braucht, dass unsere Kundinnen und Kunden Nordisland als Destination sehen, die mit ihrer lebendigen Kultur und wilden Natur mehr zu bieten hat als einen Stopover auf einer Rundreise.

Wie sieht diese Zusammenarbeit konkret aus?

Wir haben die Quellmarktperspektive, unser Nachhaltigkeits-Knowhow und unsere Kundensicht eingebracht. Wir erklären, was Gäste suchen, welche Erlebnisse die Menschen wollen und sagen, dass es klare Botschaften, klare Bilder braucht. Vor Ort wurden die Themen mit den grössten Stärken und dem meisten Potenzial entwickelt. Sie haben Gedanken wie: «Wir haben extrem wenige Personen pro Quadratkilometer, wir müssen es vielleicht anders machen als andere Destinationen.» Die Lösung dafür wird vor Ort entwickelt.

«Möchte man, dass der Tourismus ein Allerweltsgut oder ein Privileg ist?»

Overtourism ist heutzutage in aller Munde.

Overtourism ist als Wort selbsterklärend und alarmierend und kommt deshalb kommunikativ gut an. Der Begriff geht einher mit dem Tourismus-Boom vor rund sechs Jahren, der Demokratisierung des Reisens und China als grösstem Outgoing Markt. Es geht beim Begriff um die Diskussion der Tragfähigkeit des Tourismus. Negative Auswirkungen des Tourismuswachstums sind unvermeidlich – ausser er wird gemanagt. Es kommt entscheidend auf die Gestaltung des Tourismus an, ob er positive oder negative Auswirkungen auf Natur, Kultur und Bevölkerung hat. Umso wichtiger ist und wird nachhaltiger Tourismus.

Wird sich der sanfte Tourismus langfristig dem Problem Overtourism entgegenstellen können?

Die Frage ist: Möchte man, dass der Tourismus ein Allerweltsgut oder ein Privileg ist? Also, was ist der Anspruch an den Tourismus? Ich denke, dass an sehr vielen Destinationen, die von Overtourism betroffen sind, die Einheimischen jetzt während der Pandemie laut geworden sind und jetzt wieder laut werden. Der Unmut wendet sich auch an die Touristen, die dort hinkommen. Aber der Gast kommt ja, weil er über Marketing und günstige Flüge dorthin gelockt wurde. Um das zu verhindern, braucht es gesetzliche Änderungen, wie sie in Barcelona beschlossen wurden, um die Touristenströme zu lenken, um neue Produkte in anderen Destinationen zu entwickeln.

Der Druck wird immer stärker. Dank Social Media kann man heute sehr schnell Opfer des Overtourism werden. Dafür sind viele Destinationen gar nicht bereit. Die Destinationen, die schon länger damit kämpfen, finden mit der Zeit Tools, um die Besucherströme zu lenken.

Wird denn nachhaltiger Tourismus eine Nische bleiben, für die, die es sich leisten können und wollen?

Die meisten Touristen wollen keine Overtourism-Destinationen besuchen. Sie möchten eine authentische Destination besuchen. Ich denke, sanfter Tourismus ist gesellschaftsfähig und bezahlbar. Von einer Reise möchte man ja Erlebnisse mit heimnehmen. Wenn die Destinationen, die heute betroffen sind, sich anders ausrichten, haben die Besucher ein anderes Erlebnis. Das Thema kennt aber keine einfachen Antworten, gerade angesichts der Dynamik im Tourismus.

«Dadurch, dass die Touristen sehr dynamisch unterwegs sind, kann man Overtourism kaum verhindern.»

Was kann man dem Overtourism entgegenstellen?

Die Destinationen können nicht immer gleich schnell reagieren. Und es sind auch immer mehr Menschen unterwegs. Vor allem an gewissen Peaks, sagen wir Juli, August, also im Sommer. Es gibt natürlich viele Methoden, um das zu lenken, zu limitieren, beispielsweise Ticketingsystem, Förderung der Nebensaison, gar nicht erst günstige Carriers in die Flughäfen hereinlassen, Anzahl der Anlandungen im Hafen limitieren, neue Produkte in der weiteren Umgebung entwickeln et cetera.

Aber wenn ein Social-Media-Post plötzlich eine halbe Million Touristen bringt – so schnell kann eine Destination darauf nicht reagieren. Dadurch, dass die Touristen sehr dynamisch unterwegs sind, kann man Overtourism kaum verhindern. Aber es ist nicht das, was der Reisende sucht.

Welche Massnahmen ergreift Kuoni konkret?

Eines unserer Ziele von Destinationsentwicklungen ist es, die Reisezeit zu verlängern. Also, dass man eine Region beispielsweise nicht nur in den Sommermonaten Juli und August besucht, sondern zwischen April und Oktober. Das verteilt die Touristenströme besser, jeder kann es mehr geniessen, es gibt mehr Platz. Die Mitarbeitenden vor Ort profitieren von einem längeren Einsatz. Bei den Kuoni Marken gibt es über 100 Reiseländer zu entdecken, wir werben dafür, von diesem riesigen Angebot auch Gebrauch zu machen.