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Doktorierte am Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos, lebt und arbeitet in Livigno: Fabiano Monti. Alle Bilder: HO

Der Schneeflüsterer von Livigno

Fabiano Monti ist Mitgründer des Unternehmen ALPsolut, das eine Reihe von Services im Bereich der Vermeidung von Lawinengefahr anbietet, unter anderem das «Livigno Freeride Projekt».

Fabiano, in Livigno nennt man dich «Der Mann, der dem Schnee zuflüstert». Woher kommt dieser Spitzname?

Fabiano Monti: Dieser Spitzname kommt von meinem langjährigen Studium im Bereich des Schnees, das mit meiner Masterarbeit in Umweltwissenschaften am Lawinenzentrum in Arabba begann und mit einem Doktorat an der WSL in Davos endete. Ich habe das Skifahren schon immer geliebt, ich bin Snowboardlehrer, und diese Leidenschaft hat mich nach zwei Expeditionen in der Antarktis zu dem Entschluss gebracht, hierher nach Livigno zu ziehen, wo ich die Möglichkeit habe, mich zu 100 Prozent meiner Leidenschaft zu widmen. Ich habe das Unternehmen AlpSolut gegründet. Zusammen mit einem Team von Fachleuten betreiben wir Forschung und Entwicklung von Instrumenten für Lawinenvorhersagen, regionale Behörden und Unternehmen. Ich wohne in einem Chalet oberhalb von Livigno, das im Winter nur mit dem Motorschlitten oder mit Tourenski zu erreichen ist, und kann jeden Morgen mit den Skiern in mein Büro fahren – was gibt es Schöneres, als so den Tag zu beginnen?

Mit welchen Themen hast Du Dich am WSL in Davos beschäftigt?

Am WSL untersuchte ich im Zuge meiner Doktorarbeit einen Ansatz zur Ableitung von Schneedeckenmerkmalen aus digitalen stratigrafischen Simulationen, insbesondere durch den Einsatz der Software Snowpack. Das Modell, mit dem wir die verschiedenen Schichten der Schneedecke rekonstruieren können, basiert auf der Berechnung der Massen- und Energiebilanz des Schnees, das heisst, wie viel Masse und Energie in die Schneedecke eintritt und sie verlässt. Durch die Definition spezifischer Indizes konnten wir eine Methode zur Bewertung der Stabilität der simulierten Schneedecke, zur Identifizierung potenzieller Schwachschichten und ihrer Entwicklung entwickeln. Diese Tätigkeiten, die normalerweise mit einem relativ einfachen, aber zeitaufwändigen manuellen Schneeprofil durchgeführt werden, ermöglichen – wenn sie digital ausgeführt werden – eine ständige Überwachung der Entwicklung der Schneedeckenbedingungen, auch an schwer zugänglichen Stellen.

«Die Skitouren- und Freeride-Saison hat sich im Laufe der Jahre erheblich verlängert.»

Welche Bedeutung hat Lawinenforschung Deiner Meinung nach für den Tourismus?

Ich denke, dass die Lawinenforschung für den Outdoor-Tourismus von grundlegender Bedeutung ist. Aber noch wichtiger ist die gesunde und bewusste Weitergabe des Gefahrenproblems. Die Lawinengefahr ist ein Querschnittsproblem, das alle betrifft, die sich einer verschneiten Umgebung nähern: Nicht nur Freerider, sondern auch diejenigen, die über einen Alpenpass fahren oder Schneeschuhwandern gehen. Dank unserer Forschungstätigkeit sind wir in der Lage, immer klarere und zuverlässigere Informationen zu liefern.

Zunächst einmal muss allen Wintersportgästen bewusst gemacht werden, dass es kein Nullrisiko gibt. Information und Training ermöglicht es jedoch, Outdoor-Aktivitäten in den Bergen auf die sicherste Art und Weise durchzuführen. Es ist daher unsere Pflicht, den Gästen alle zur Verfügung stehenden Mittel an die Hand zu geben, um sich über die Lawinen-Situation in dem Gebiet, in dem sie sich bewegen wollen, bestmöglich zu informieren. Diese Tätigkeit kann nur dank der Forschung und des Engagements von Fachleuten, die mit den lokalen Behörden zusammenarbeiten, durchgeführt werden.

Gute Informationen und Training ermöglichen es, Outdoor-Aktivitäten in den Bergen auf sichere Art und Weise durchzuführen.

Je mehr Informationen wir den Wintersportlern geben, desto besser können sie diese Tätigkeit ausüben. Gleichzeitig vermitteln wir ihnen das Bewusstsein, dass das Gebiet gepflegt und erforscht wird. Auf diese Weise binden wir den Touristen an uns, indem wir ihm ein vielfältigeres Angebot bieten.

Auf der anderen Seite muss auch der Gast diese Informationssuche durchführen und Verantwortung übernehmen, da er durch seine Entscheidungen und die Nutzung der von Fachleuten wie uns zur Verfügung gestellten Hilfsmittel in der Lage ist, eine kontrollierte Risikoerfahrung zu machen. Es handelt sich also um eine Begegnung zwischen zwei Benutzerkategorien, an deren Ende sie in der Lage sein werden, sich bewusst im alpinen Gelände zu bewegen, im Wissen um die Aktivitäten, die sie durchführen werden.

Hat die Risikobereitschaft der Freerider und Tourengeher zugenommen?

Die Art und Weise, wie diese Sportarten ausgeübt werden, hat sich bestimmt geändert, und damit auch die Bewertung und Übernahme von Risiken. Was meine ich damit? Die Skitouren- und Freeride-Saison hat sich im Laufe der Jahre erheblich verlängert; man bewegt sich unter gefährlicheren Bedingungen und in komplexerem Terrain. Gleichzeitig hat sich aber auch das Gefahrenbewusstsein verbessert: Die Skifahrer investieren viel mehr Zeit und Geld in ihre Ausbildung, kaufen und benutzen Sicherheits-Ausrüstung. Es stehen auch viel mehr Informationen zur Verfügung, sowohl schneemeteorologische Informationen als auch Informationen über die Umgebung, in der man sich bewegt, so dass man - wenn man über die entsprechenden Hilfsmittel verfügt - in der Lage ist, die Umgebung besser zu verstehen und folglich die Gefahrensituation, in der man sich befindet, besser einzuschätzen.

Generell würde ich also sagen, dass es nicht darum geht, mehr Risiko auf sich zu nehmen, sondern darum, mehr Instrumente zur Verfügung zu haben, die es ermöglichen, uns bewusst in einem Umfeld zu bewegen, in dem das objektive Risiko vielleicht grösser, aber beherrschbar ist - dank der Bewertungen, die wir vornehmen können. Man könnte dies als besseres Management des bestehenden objektiven Risikos bezeichnen. Was ich sage, wird durch die Zahlen bestätigt: Die Zahl der Menschen, die sich im Backcountry bewegen, nimmt ständig zu, und sie halten sich immer länger im freien Gelände auf. Gleichzeitig steigt zwar die Zahl der Unfälle, aber nicht die Zahl der Todesopfer.

«Unser Ansatz ist es, zu informieren und das Handwerkszeug zu vermitteln, um das Gelände auf sichere Art und Weise nutzen zu können.»

Erzähle uns über das Freeride Livigno Projekt!

Livigno hatte schon immer das Problem, die Aktivitäten im Backcountry zu kontrollieren. Das Gelände und die Schneeverhältnisse sind recht eigenartig und Aktivitäten abseits der Pisten waren bereits bei der regionalen Gefahrenstufe 3 per Verordnung verboten. Die lokalen Besonderheiten sind auf die Tatsache zurückzuführen, dass sich Livigno in der Mitte der Alpenkette befindet, in einer ziemlich grossen Höhenlage, so dass aufgrund des kalten Wetters - auch wenn die Schneemenge auf dem Boden gering sind - die Bedingungen für eine längere Zeit gut bleiben. Gleichzeitig begünstigt die geringe Schneemenge die Bildung von Schwachschichten.

Das Gelände selbst eignet sich zum Freeriden mit Lines aller Schwierigkeitsgrade, so dass es von quasi allen Könnensstufen genutzt werden kann. Eine weitere Besonderheit ist, dass das Gebiet im Gegensatz zu anderen Orten nicht geschlossen werden kann, wenn dies erforderlich ist, da man auch ohne die Benutzung der Seilbahn ins Backcountry gelangt. Aufgrund all dieser Besonderheiten entstand die Notwendigkeit, eine alternative Lösung zu den restriktiven Verordnungen zu finden - und so entstand das Projekt "Freeride Livigno - Feel the Powder".

Verordnungen sind sowohl aus touristischer als auch aus pädagogischer Sicht kontraproduktiv. Unser Ansatz ist es stattdessen, zu informieren und das Handwerkszeug zu vermitteln, um das Gelände auf die sichere Art und Weise nutzen zu können und so die Freerider in die Verantwortung zu nehmen. Wir haben verschiedene Aktivitäten ins Leben gerufen, die den Wintersportlern bei der bewussten Nutzung des Gebiets von Livigno helfen können: Das Herzstück des Projekts ist ein lokales Lawinenbulletin, das nach den Standards der grossen europäischen Lawinenzentren erstellt wird. Die Daten von fünf automatischen Messstationen, kombiniert mit manuellen Beobachtungen, bilden die Grundlage für ein tägliches Bulletin in italienischer und englischer Sprache. die Aktivität Freeriden eird in Livigno durch die Gemeindeordnung geregelt und verfügt über Freeride-Karten, ähnlich denen in Engelberg oder Disentis, mit einer Art Geländeklassifizierung. Darüber hinaus haben wir kontrollierte Skitouren- und Schneeschuhrouten eingerichtet, um das touristische Angebot des Gebiets unter Berücksichtigung der ökologischen Nachhaltigkeit zu diversifizieren. All das zusammen hat zur Gründung des Outdoor-Zentrums geführt, das alle Aktivitäten abseits der Pisten im Skigebiet fördert und verwaltet, einschliesslich der Bergführer.

Fabiano Monti bespricht mit einem Kollegen die aktuelle Schneesituation.

Livigno liegt direkt an der Schweizer Grenze, einige Touren gehen über die Grenze. Gibt es eine Zusammenarbeit mit den Schweizern?

Nicht zuletzt durch meine langjährige Verbundenheit besteht mit dem WSL in Davos eine enge Zusammenarbeit. So nehmen wir gemeinsam an der Europäischen Lawinenwarnvereinigung EAWS teil und haben darüberhinaus gemeinsame Arbeitsprojekte. Wir tauschen häufig Erfahrungen, Einschätzungen zur aktuellen Lawinensituation und Ideen aus.

Was die Strassenverwaltung betrifft, so ist die unterschiedliche Organisation in Italien und der Schweiz der Zusammenarbeit nicht sehr förderlich: In Italien ist der letzte Entscheidungsträger für die Strassensicherheit eine politische Instanz, die von Experten beraten wird; in der Schweiz ist es meist ein Techniker, der die Entscheidungen trifft. Wir sind jedoch im regelmässigen Austausch mit den Verantwortlichen für die Verwaltung des Forcola-Passes (die Strasse von Livigno zum Bernina-Pass). Wir versuchen, diese Herausforderungen zu überwinden und engere Beziehungen zu unseren Schweizer Kollegen aufzubauen; wir verfolgen das Thema auch auf regionaler Ebene, damit die Bedeutung einer synergetischen Verwaltung der Alpenpässe allgemein anerkannt wird.

Welche Unternehmen zählen noch auf Eure Expertise, und was für Projekte setzt ihr für sie um?

Derzeit liefern wir Schneedeckensimulationen an die meisten regionalen Lawinenzentren Italiens sowie an die Lawinendienste von Tirol, Andorra und Valdaran. Sie nutzen die bereitgestellten Informationen, um die synoptische Lawinengefahr besser einschätzen zu können.

In der Schweiz haben wir eine gute Zusammenarbeit mit der Firma Wyssen Avalanche Control und stellen über sie Schneedeckensimulationen für das Skigebiet Samnaun-Ischgl und für einige Lawinensicherheitsprojekte in Kanada und den USA bereit. Seit sechs Jahren liefern wir der österreichischen Eisenbahngesellschaft ÖBB täglich Schneedeckeninformationen, um sie bei der Beurteilung der Sicherheit der lawinengefährdeten Abschnitte ihres Netzes zu unterstützen. Alle diese Dienste werden als Entscheidungshilfe für die Beurteilung der Lawinengefahr vor Ort genutzt.

Wir unternehmen derzeit grosse Anstrengungen, um Schneeinformationen aus verschiedenen Quellen zusammenzuführen: automatische Wetterstationen, numerische Wettermodelle, Satellitendaten und manuelle Beobachtungen. Wir glauben, dass dieser Ansatz ein enormes Potenzial hat, um die Bewertung der Lawinengefahr zu verbessern, indem die zeitliche und datenmässige Auflösung der verfügbaren Informationen erhöht wird.


(Dieser Beitrag ist Teil einer Kooperation mit PrimCom. Die redaktionelle Verantwortung liegt bei Travelnews.)

(TN)