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Die diskreten Pfade rund um Livigno
Artur K. VogelTrepalle liegt auf 2000 bis 2200 Metern über Meer und ist eine der höchstgelegenen, ganzjährig bewohnten Ortschaften Europas. Sie gehört zur Gemeinde Livigno ganz oben im Veltlin in der Lombardei. Don Alessandro Parenti, geboren 1903, kam als junger Priester 1929 in das Dorf, das damals kein fliessendes Wasser, keine Telefonleitungen und keine Elektrizität hatte und, bei bis zu minus 30 Grad, im Winter oft monatelang von der Aussenwelt abgeschnitten war. Das Telefon kam 1948, eine Wasserleitung 1958, und ab 1951 war der Foscagno-Pass von Livigno hinüber nach Bormio ganzjährige befahrbar.
Der Fortschritt war unter anderem dem Pfarrer zu verdanken, einem gewitzten, tatkräftigen und lautstarken Mann. Den Schriftsteller Giovanni Guareschi, der sich mehrmals in Trepalle aufhielt, beeindruckte der Pfarrer dermassen, dass er ihm ein weltberühmtes literarisches Denkmal setzte: Alessandro Parenti wurde zum Vorbild von Don Camillo.
Ein streitbarer Pfarrer
In Guareschis Geschichten steht Don Camillo im Dauerclinch mit dem ebenso schlitzohrigen Bürgermeister Giuseppe Bottazzi, genannt Peppone, einem Kommunisten. Das ist zwar Fiktion: Weder in Livigno noch in Trepalle gab es jemals einen kommunistischen Gemeindepräsidenten; dafür ist die Gegend viel zu katholisch. Doch auch Pfarrer Parenti, der volle 41 Jahre in Trepalle wirkte, legte sich oft mit den Autoritäten an. So setzte er sich vehement für Bewohner seines Dorfes ein, die in die Mühlen der Justiz geraten waren. Und das geschah nicht selten, denn Trepalle lebte vor allem vom Schmuggel. Grenzen seien von Menschen, nicht von Gott geschaffen, meinte Don Alessandro, weshalb er als Priester den Schmuggel nicht verdammen könne.
Livigno ist «Italiens Wurmfortsatz», wie sich die Lokalhistorikerin und Schriftstellerin Alice Martinelli ausdrückt: Das etwas mehr als 20 km lange Tal, stösst auf drei Seiten an die Schweiz (zu der es von 1512 bis 1797 mit dem ganzen Veltlin auch gehörte). 1805 wurde Livigno zur zollfreien Zone erklärt, wie Alice Martinelli erläutert, weil es sich als unmöglich erwies, alle Saumpfade hinüber in die Schweiz zu kontrollieren, und weil man verhindern wollte, dass sich das abgelegene Tal entvölkerte. Dieser Status wurde 1818 von Österreich-Ungarn, 1910 von Italien und 1960 von der Europäischen Gemeinschaft anerkannt.
Von Abgaben und Steuern befreit
Das heisst: Benzin, Alkohol, Zigaretten, Parfüms sind in Livigno von Zollabgaben und Mehrwertsteuer befreit und deshalb viel billiger als in Rest-Italien oder in der Schweiz. Touristen decken sich deshalb gern mit allem Möglichen ein; an der Hauptstrasse von Livigno reiht sich Shop an Shop. Italiener aus den umliegenden Gegenden tanken hier ihre Autos auf.
Aber auch der Schmuggel war und ist ein lukratives Geschäft. Einer, der in den 1970er-Jahren daran beteiligt war, ist Gisueppe «Epi» Bormolini (66), ein wettergegerbter Mann mit einem riesigen Schnauz. Seine Schmuggelroute führte von Livigno nach Bormio, aber nicht über den Foscagno-Pass, wo die Zöllner sassen, sondern über den nur zu Fuss begehbaren Trelà-Pass hinüber ins San Giacomo-Tal. Dort wurde die Ware in Empfang genommen; die Schmuggler wurden im Auto zurück nach Livigno gebracht.
Heute sind die Pfade über die Berge und Pässe beliebte Wanderwege und Bike-Trail, aber damals mussten sich die jungen Schmuggler gewaltig anstrengen: Zigaretten, Zucker, Kaffee, manchmal Alkohol wurden auf Holzgestellte gestapelt. Diese, meist um die 30 Kilo schwer, bürdeten sich die Schmuggler auf den Rücken und trugen sie in der Nacht über den Berg. «Je mehr wir tragen konnten, desto grösser war der Lohn.» Meist waren die Contrabbandieri in Gruppen von acht oder zehn unterwegs. «Zwar hatten wir immer ein wenig Angst», erzählt Bormolini, «aber wir hatten auch viel Spass.»
Etwas früher als Epi Bormolini war Casimiro «Casi» Cusini (72) unterwegs. Er kannte die illegale Tätigkeit schon früh, denn sein Vater, von dem uns Cusini Fotografien zeigt, hatte sie bereits ausgeübt. «In den 1950er- und 1960er-Jahren wurden vor allem Salz aus Italien in die Schweiz geschmuggelt und Zigaretten und Kaffee aus der Schweiz, wo sie leichter erhältlich waren und weniger kosteten, nach Italien», erzählt er. Cusini schmuggelte zwischen 1965 und 1971. Dann heiratete er und hörte damit auf.
Der Capo, also der Auftraggeber des illegalen Treibens, war immer ein Ladenbesitzer in Livigno, bestätigen die beiden Ex-Schmuggler. «Er erwarb die zollfreie Ware legal. Dann liess er sie illegal zurück nach Italien bringen und verdiente sich so eine goldene Nase», sagt Epi Bormolini.
Seit den 1960er-Jahren sind Livigno und Trepalle beliebte Ferienorte, im Sommer und Herbst zum Wandern, Biken, Bergsteigen und Shoppen, im Winter für Ski und Snowboard (115 km Pisten), Langlauf (30 km Loipen), Schneeschuhwandern, Schlitteln. Hauptdarstellerin ist die grossartige Berglandschaft mit dem schneesicheren Tal von Livigno auf rund 1800 Metern, auch «Klein Tibet» genannt, und den umliegenden Dreitausendern.
Die Anreise ist bequem geworden: Ganzjährig von Bormio her über den Passo di Foscagno und aus dem Engadin von der Ofenpass-Strasse her durch den Tunnel Munt-la-Schera und entlang dem Stausee. Von Zernez gibt es auch eine direkte Buslinie nach Livigno. Im Sommer kann man zudem aus dem Puschlav über die Passstrasse Forcola di Livigno anreisen.
1500 Kuhglocken
Und was ist aus unseren Schmugglern geworden? Ab etwa 1975 wurden die Schmuggelpfade nicht mehr genutzt. Man transportierte die Ware jetzt in Autos mit doppeltem Boden im Kofferraum. Epi Bormolini nutzte seine intime Kenntnis der Gegend als Bergführer; im Winter arbeitete er als Langlauf-Instruktor und Schneeschuh-Wanderführer. Casi Cusini arbeitete 35 Jahre lang als Maler und spielte daneben Alt-Saxofon in einer Volksmusik-Combo. Dann eröffnete er einen Laden mitten in Livigno. Wurde er damit seinerseits zum Capo? Cusini lacht. Nein, er verkauft in seinem Laden Antquitäten und alte Kuhglocken vor allem aus der Schweiz. Davon besitzt er rund 1500. Ein paar hundert hängen im Restaurant «Al Mónd Véi» («Die vergangene Welt»), einem traditionellen, edlen Lokal, das er seit rund zwei Jahren mit seinem Sohn John Cusini betreibt.