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In der näheren Umgebung des «Giarvino» kann man stundenlang durch die Weinberge wandern. Bilder: AKV

Giarvino, der perfekte Rückzugsort

Artur K. Vogel

Ein Gästehaus mit Obstgarten, Weinberg und Wäldchen: Die Berner Sopranistin Romy Dübener und der Unternehmer Fredy Wiederkehr beherbergen in ihrem Refugium im Piemont vor allem Gäste aus der Schweiz.

Man könnte damit auf Safari gehen. Aber Fredy Wiederkehr benutzt das urchige, vierradgetriebene Fahrzeug namens «Gator», um sich auf dem teilweise stotzigen, vier Hektar grossen Gelände seines Refugiums im südlichen Piemont fortzubewegen, Material und gelegentlich auch Gäste zu transportieren. Wiederkehr und seine Partnerin Romy Dübener haben ihr Gästehaus im Herbst 2019 eröffnet und «Giarvino» genannt, ein Wortspiel aus «Giardino» und «Vino», was die Anlage anschaulich beschreibt.

Das «Giarvino» ist eingebettet in Weinberge, Obstgärten und einen kleinen Wald. Er wird Druidenwald genannt. Denn er ist von einem Hügel gekrönt, auf welchem die Ruinen einer uralten Kapelle stehen und der einst, so besagt es die Legende, von einem Druiden bewohnt war. Keine Legende sind die vielen Nischen, Waldlichtungen (eine mit einem Pizzaofen), Bänke, eine Piazza unter einem riesigen Nussbaum und ein Baumhaus, das demnächst eröffnet werden soll und einen weiteren Ausblick in die Natur bieten wird: Sie alle sind stille, lauschige Rückzugsmöglichkeiten zur Kontemplation und Regeneration.

Chancen während der Pandemie genutzt

Der Start war holperig wie das Gelände, auf dem das Gästehaus steht: Kaum hatten Romy und Fredy – man duzt sich hier, in dieser familiären Anlage – ihr Gästehaus eröffnet, kam die Pandemie. Die beiden legten jedoch nicht die Hände in den Schoss, sondern nutzten die Zwangspause: Unter anderem entstand ein kleiner Pool, in welchem man heute herrlich planschen und gleichzeitig die Aussicht über die weitläufige, hügelige Landschaft, die Weinberge und Wäldchen geniessen kann.

Aus der Corona-Not entstanden ist auch die hervorragende Küche, die Küchenchef Francesco aus Apulien hier kreiert: «Eigentlich gibt es in Acqui Terme erstklassige Restaurants», sagt Fredy Wiederkehr. «Das Städtchen ist nur zehn Minuten entfernt. Aber die Restaurants waren während der Pandemie geschlossen. Und danach sagten die Gäste: Es ist bei Euch so angenehm, wir wollen jetzt nicht ins Auto sitzen und in die Stadt fahren.»

Hier werden die Gäste des «Giarvino» kulinarisch verwöhnt.

So kommt es, dass das «Giarvino», obwohl mit acht Gästezimmern und Suiten eher klein, eine Küche zu bieten hat, wie man sie sonst in Fünfsterne-Häusern vorgesetzt bekommt. Kulinarisch verwöhnt wird man allerdings schon am Morgen, wenn die Mitarbeiterinnen ein herrliches Frühstücksbuffet mit lokalen Spezialitäten aufbauen: Schinken, Salami, Käse, Brot, Butter und vor allem viele frische Früchte von den eigenen Obstbäumen.

Liebe auf den ersten Blick

Dass Romy Dübener und Fredy Wiederkehr zu perfekten Gastgebern mutieren würden, stand nicht in den Sternen: Die Bernerin Romy ist eine erfolgreiche Sopranistin, Chorleiterin und Musikpädagogin. Der ursprünglich aus dem Aargau stammende Fredy war einst Gemeindeschreiber in Diemtigen BE, später Chef der Wirtschaftsförderung des Berner Oberlandes. Bekannt wurde er als Erfinder der modernen Schnitzeljagd namens Foxtrail mit heute 50 Mitarbeitern, die er während fast zwei Jahrzehnten aufbaute und 2018 verkaufte.

Schon lange hatte Wiederkehr den Wunsch nach einem Rustico im Tessin oder einem Ferienhaus in Norditalien gehegt. Doch er stellte sich die bange Frage: «Wenn alles arrangiert ist, was machst du dann dort? Nur noch im Liegenstuhl liegen?» Die Antwort fand sich zufälligerweise bei einem Makler: «Meine Schwiegertochter sah das ausgeschriebene Gästehaus, und mir war rasch klar: Das ist es.» – «Liebe auf den ersten Blick», wie sich Romy Dübener ausdrückt.

Früher Sopranistin und Gemeindeschreiber, heute Hoteliers im Piemont: Romy Dübener und Fredy Wiederkehr.

Was das künftige Gastgeberpaar an der idyllisch gelegenen Liegenschaft faszinierte, war «die Balance zwischen alt und neu». Die ältesten noch sichtbaren Teile des Gästehauses datieren rund fünf Jahrhunderte zurück. Die vier Hektaren erzählen viele Geschichten. Und «die Möglichkeit, nicht nur Verwandte und Freunde zu beherbergen, sondern auch Gäste, die für die erbrachten Dienstleistungen bezahlen», so Fredy Wiederkehr, schien attraktiv. «Die bauliche Substanz ist aussergewöhnlich. Zudem haben wir viele Räumlichkeiten, die man für einen rein kommerziellen Betrieb gar nicht bräuchte.» Da wäre zum Beispiel die Cantina, ein Weinkeller mit Weinfässern, in welchem man Feste feiern und Gäste bewirten kann; der Salon mit riesigem Cheminée, das ehemalige Hallenbad, das die Gastgeber zum Tagungs- und Eventraum umgebaut haben, ein grosser Garten mit Loggia und Pizzaofen, und so weiter.

Kultur, Genuss & Erholung

Zwar kommen die beiden, wie gesagt, nicht aus der Gastronomie. Und Fredy Wiederkehr sieht das «Giarvino» nicht als dritte berufliche Karriere und auch nicht als Verdienstmöglichkeit: Er wäre, sagt er, mit einer schwarzen Null am Ende des Jahres zufrieden. Aber beide eignen sich zügig das entsprechende Fachwissen an: Romy Dübener absolviert momentan die Wirte-Fachausbildung; Fredy Wiederkehr hat bereits eine Barista-Prüfung bestanden, die sich in sensationellen Espressi und Cappuccini niederschlägt. Zudem gebe es Ähnlichkeiten mit Foxtrail, meint er Gastgeber: «Bei Foxtrail sah ich mich als Unterhalter, der die Leute verblüffen will, aber nicht frontal, sondern indem ich ihnen Möglichkeiten offerierte, dank denen sie sich selber vergnügen können. Hier ist es ähnlich: Der Gast soll sich wohlfühlen, ohne dass ich der Unterhalter bin.»

So ist das «Giarvino» zu einem ganz speziellen Ort geworden. Einem Ort der Begegnung, der Kultur, des Genusses und der Erholung. In der näheren Umgebung kann man stundenlang durch die Weinberge wandern, von Dorf zu Dorf, und in den lokalen Gasthäusern einkehren. Man kann Weingüter besuchen, und nur 15 Kilometer entfernt, in der Nähe des mittelalterlichen Städtchens Mombaruzzo, steht die weltberühmte Grappa-Destillerie Berta Besuchern offen. Auch ein Besuch des Marktes von Acqui Terme jeweils am Dienstag und Freitag lohnt sich. Und wenn es einmal doch der Strand sein soll: Die ligurische Küste ist auch nur gut anderthalb Autostunden entfernt.

Hier lässt sich herrlich planschen und gleichzeitig die Aussicht über die weitläufige, hügelige Landschaft, die Weinberge und Wäldchen geniessen.