Future

Die Erwartung auf Erlebnisse, gesunde Erholung und ungetrübten Genuss in unseren Ferien ist riesengross. Bild: TN

Einwurf Ferien 2.0

Vanessa Bay

«Ferien» steht heute für eine Riesenerwartung, schreibt Vanessa Bay und fordert bisherige Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Gerade Reiseprofis sollten auf neue Ideen kommen, was Ferien sind.

Man übertreibt wohl nicht besonders, wenn man feststellt, dass uns in den letzten Jahren enorm viele Selbstverständlichkeiten abhandengekommen sind: Plötzlich konnten wir uns aufgrund der Pandemie nicht mehr frei bewegen und einander näherkommen. Das seit Langem Undenkbare geschah – es gibt Krieg in Europa. Unser Lebensstil steht energetisch womöglich in Frage, sei es in Bezug auf unseren Wohn- und Lebenskomfort oder in Bezug auf unsere Mobilität. Unser Berufsleben ist seit geraumer Zeit nicht mehr so, wie es lange für selbstverständlich galt. Büroarbeit findet vermehrt im trauten Heim statt. Karriere ist nicht mehr (allen) alles. Auch kinderlose Männer wollen immer öfters Teilzeit arbeiten. Unser Geschlechterverständnis ist alles andere als selbstverständlich. Unsere Sprache kann kaum noch vernünftig damit umgehen. Kulturelle Grenzen öffnen sich nicht mehr, sondern markieren Verbotszonen kultureller Aneignung. Die Liste liesse sich leicht fortsetzen: Vieles, was uns selbstverständlich war, ist es nicht mehr.

Aber darum geht es hier nicht. Hier geht es um die eine grosse Ausnahme von dieser Tendenz. Unerschüttert selbstverständlich ist unser Anspruch auf Ferien! Ganz selbstverständlich denken wir wie schon unsere Eltern das Adjektiv «wohlverdient» dazu. Wir haben wie eh und je die Erwartung auf grosse Erlebnisse, gesunde Erholung, friedliche Gemeinsamkeiten und ungetrübten Genuss in unseren Ferien. Dass man die vielleicht drei Wochen im Jahr mit solchen Erwartungen überfrachtete, war wohl schon immer ein Risiko. Der Preis war nicht selten Enttäuschung. Aber heute, wo Ferien «the last hope standing» in einer Welt voller Selbstverständlichkeitsscherben ist, wird diese Erwartungsüberfrachtung zu einem ernsten Problem.

Immer öfter werden Ferien so zum puren Stress. Es fängt beim schlechten Gewissen an, wenn die Ferien auf einen Flug setzen. Es beginnt vielleicht mit einem nervtötenden Stau am Gotthard. Es ruiniert uns die ohnehin strapazierten Nerven – die ja eigentlich Erholung suchten –, wenn wir in überfüllten Zügen sitzen oder stundenlang am Check-in anstehen müssen. Überfüllte Strände und gestresste Gelateria-Betreiber heben die Laune ebenso wenig. Und wo man einst hinfuhr, um «in die Sonne» zu kommen, da gerät man heute nicht selten in einen Brutofen.

«Wir können in den Ferien nicht kompensieren, was in unserem sonstigen Leben nicht zufriedenstellend läuft.»

Das im Alltag bereits hart geprüfte familiäre Zusammenleben, das den Zusammenbruch (fast) aller Selbstverständlichkeiten nicht auffangen kann, erfährt so auch noch in den lang ersehnten Ferien einen erneuten Stresstest. Und den besteht es oft genug nicht. Kurzum: «Ferien» steht heute für eine Riesenerwartung, die fast immer uneinlösbar ist.  Dass die Reisebranche ihre Werbeversprechungen nicht gerade unter dem Deckel hält, verstärkt den Effekt dann noch.

Enttäuschungen sind damit vorprogrammiert. Und auf völlig kontraproduktive Weise reagieren wir mit einer Verstärkung des Teufelskreises: Aber nächstes Jahr, da machen wir etwas ganz und gar Aussergewöhnliches und Grossartiges! Vielleicht sollten wir stattdessen unsere Erwartungen an Ferien zurückfahren. Wir können in den Ferien nicht kompensieren, was in unserem sonstigen Leben nicht zufriedenstellend läuft. Da müssen wir schon unser Leben umkrempeln oder zumindest besser gestalten.

Aber gleichzeitig sollten wir – und hier meine ich insbesondere auch «wir Reiseprofis» – auf neue Ideen kommen, was Ferien sind. Ferien 2.0 sozusagen. Wir sollten also nicht an der einzig verbliebenen Selbstverständlichkeit – Ferien wie seit jeher – mit aller Verzweiflung festhalten, sondern im Gegenteil: Wir sollten auch diese Selbstverständlichkeit aufgeben. Das eröffnet Chancen auf Neues!

Wer sagt denn, dass man ein (oder vielleicht zwei) Mal im Jahr für ein bis drei Wochen wegfahren muss? Wer sagt denn, dass es zwingend in den Sommer- und Herbstferien sein muss? Respektive: Wer sagt denn, dass die Familie hier alles gemeinsam machen muss? Wer sagt denn, dass Reisen gleich Ausland bedeutet? Wer sagt denn, dass der Sommer erste Wahl für «Ferien»-Aktivitäten sein muss?

«Auch Ferienkonsumenten sollten darüber nachdenken, was sie realistischerweise von Ferien erhoffen können.»

Natürlich kann, will und soll die Reisebranche nicht an den Bedürfnissen ihrer Kundschaft vorbei produzieren respektive ihre Angebote ausgestalten. Aber wenn diese Bedürfnisse – siehe die genannte Erwartungsüberfrachtung – «falsch» sind, so dass ihre wörtliche Zufriedenstellung nur in Frust endet, dann kann das auch nicht die Basis sein für ein nachhaltig erfolgreiches Geschäftsmodell der Branche. Ferien sind ein wichtiger Pfeiler in der Branche. Wenn diese Stütze gesellschaftlich morsch wird, dann müssen wir Alternativen bieten können. Sonst büssen wir dafür, dass die Ferien unserer Kunden deren Erwartungen nicht mehr erfüllen können und stattdessen zu purem Stress werden.

Es wäre deshalb sinnvoller, vermehrt auch «out of the box» zu denken und wirklich neue Angebote zumindest zusätzlich ins Angebot zu nehmen. Allerdings müssten dann auch die Kundinnen und Kunden unserer Branche (darin eingeschlossen sind auch wir als Ferienkonsumenten) vermehrt darüber nachdenken, was sie sich wirklich und realistischerweise von dem erhoffen können, was sie aus dem angestammten Budgettopf «Ferien» bezahlen wollen.

Ein solcher Prozess des Nachdenkens braucht Anregungen und inspirierende Beispiele. Es gab niemals die Kundenbedürfnisse, die das iPhone dann befriedigte. Es gab mit dem iPhone gänzlich neue Möglichkeiten – und die wurden dann zum Bedürfnis. Die Reisebranche sollte daraus lernen. Ein Produkt «purer Stress» wird nämlich niemals Kundenbedürfnis. Natürlich masse ich mir nicht an, die Lösung parat zu haben. Aber ich rege an, dass wir – auch als Reiseprofis – darüber in eine Diskussion einsteigen, wie Ferien 2.0 aussehen könnten. Ohne Denkverbote. Dann können wir diesen Branchenpfeiler wieder stärken.