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Solche Bilder wird es diesen Sommer wieder an vielen Orten zu sehen geben. Wollen wir das? Bild: AdobeStock

Kommentar Der Overtourism ist wieder da

Jean-Claude Raemy

Die Pandemiejahre waren für die Tourismusbranche verheerend, doch für einzelne Tourismusziele auch eine Verschnaufpause, während welcher über einen Reset des globalen Tourismus diskutiert wurde. Dieser droht nun aber durch eine schnelle Rückkehr zu alten Mustern zur leeren Phrase zu werden.

«Overtourism» war vor der Pandemie eine der grössten Sorgen des Tourismus. Der eigene Erfolg wurde zum Problem. Von Touristenfahrzeugen verstopfte Strassen, vor lauter Menschenmassen unsichtbar gewordene Sehenswürdigkeiten, verscheuchte Tiere und verscheuchte einheimische Anwohner, horrende Preise für wenig Leistung - das alles sorgte in Tourismus-Hochburgen für viel Missmut, bei Einheimischen wie bei Touristen.

Dann kam die Pandemie, und quasi über Nacht war der Overtourism ins Gegenteil verkehrt worden. Keine Besucher mehr, keine Kreuzfahrtschiffe mehr, kaum noch Flüge. Einheimische entdeckten Orte in ihren Städten und Regionen, welche sie zuletzt wegen den Touristen gemieden hatten. Wildtiere kehrten an viele Orte zurück, die sie nicht mehr frequentiert hatten. Es gab die Hoffnung, dass Mieten in Stadtzentren wieder bezahlbar würden. Doch gab es natürlich auch eine Kehrseite: Zahllose Hotels, Bars, Restaurants und sonstige eng mit dem Tourismusgeschäft verbundene Betriebe mussten schliessen, Tausende verloren ihre Jobs.

Das führte zumindest an jenen Orten, welche von Overtourism betroffen waren - von Barcelona über Venedig, Dubrovnik, Amsterdam und Paris bis hin zu Angkor Wat oder Machu Picchu - zu grossen Diskussionen darüber, wie man den künftigen Tourismus gestalten wolle. «Crowd Management»-Themen wichen plötzlich Nachhaltigkeits-Themen, es wurde von einer Diversifizierung der Wirtschaft gesprochen, damit man weniger abhängig vom Tourismus sei. Auf jeden Fall sollten die Lehren des Overtourism gezogen werden, eine Rückkehr in alte Muster war nicht vorgesehen.

Ziel erreicht? Sieht aktuell nicht so aus. Mit der Aufhebung der meisten Covid-bedingten Reisebeschränkungen ist die Nachfrage wieder regelrecht explodiert. Eine Nachfrage, welcher Hoteliers, Fluggesellschaften und sonstige Tourismusunternehmen nur zu gerne nachkommen wollen, auch wenn dies hie und da derzeit mit Problemen verbunden ist. War vor einem Jahr noch eine langsam wiederkehrende Nachfrage prognostiziert worden, stellt sich nun heraus, dass die Menschen wieder «en masse» reisen wollen. Dazu werden ihnen Flugsitze, Hotelbetten und mehr zu guten Preisen zur Verfügung gestellt. Ja, zu bereits klar höheren Preisen als noch vor der Pandemie, doch das scheint die wenigsten abzuschrecken. Die Strände am Mittelmeer werden diesen Sommer voll sein wie wohl noch nie.

Welche Art von Tourismus wollen wir?

Es liegt auf der Hand, dass Menschen wieder reisen wollen, und dass es Unternehmen gibt, welche dieses Bedürfnis befriedigen wollen. Tourismus ist der grösste Arbeitgeber weltweit, ja selbst wir, Travelnews, leben davon. Der Tourismus muss sich allerdings selber hinterfragen. Das Modell basiert, wie so viele andere Wirtschaftszweige, auf permanentem Wachstum. Doch unlimitiertes Wachstum ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Tourismus, also das Reisen per se, ist ein Bedürfnis des Menschen, keine Frage. Touristische Aktivität war lange Jahre für viele Orte auch ein wirtschaftlicher Glücksbringer. Tourismus ist super, denn das Alleinstellungsmerkmal der Ferienindustrie ist die Gestaltung von Freizeit, Erlebnis, Vergnügen, also der Auszeit von allen Verantwortungen. Historische Orte werden dank dem Tourismus geschützt, restauriert, gar wieder aufgebaut. Es gibt viele positive Aspekte des Tourismus. Das darf aber nicht dazu führen, dass man negative Auswirkungen ausblendet. Da, wo der Tourismus inzwischen mehr schadet als bringt, muss man dringend umdenken. Welche sozialen und ökonomischen Kosten darf mein Freizeiterlebnis verursachen?

Die Frage ist nun, wer es in der Hand hat, Änderungen herbeizuführen.

Wer muss umdenken? Touristen oder die Branche?

Was können Touristen tun? Es gibt seit langem Appelle, wonach man «verantwortungsvoll reisen» soll, mit Rücksicht auf Einheimische und die Natur, vielleicht mit weniger Reisen pro Jahr, dafür längeren, und zu Preisen, von denen alle in der touristischen Wertschöpfungskette leben können. Viel wurde geschrieben über das «Erwachen eines Nachhaltigkeits-Empfindens» während der Pandemie, also dem grösseren Wert, welcher Nachhaltigskeitsthemen plötzlich gewährt wurde und welcher touristische Unternehmen dazu führte, mehr Acht zu geben auf Themen der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit in ihrem Angebot.

Aber Hand aufs Herz: Der Anteil jener, die ihre Flugreisen kompensieren, liegt immer noch deutlich unter 1 Prozent. Das zumindest teilweise auch wegen Tourismus entstehende Abfallproblem ist alles andere als im Griff. Der Preis bleibt für die meisten Reisenden der wesentliche Entscheidungsfaktor. «Ab an die Sonne» ist für viele wichtiger als respektvolles Reisen. Und wissen Sie was: Das ist nun mal so und wurde auch von der Tourismusindustrie über Jahre willentlich oder zumindest passiv «herangezüchtet».

Der Ball ist eigentlich auf der Seite der Tourismusanbieter. Welchen Beitrag kann und muss der Tourismus etwa zur Erreichung der Pariser Klimaziele leisten? Darüber wird diskutiert. Und an dieser Stelle darf auch gesagt sein, dass der Tourismus seine Hausaufgaben macht. Kreuzfahrtunternehmen haben in den letzten Jahren enorm viel gemacht, um umweltverträglicher zu werden. Reiseveranstalter wählen immer öfter Hotelpartner nach Nachhaltigkeitskriterien aus und machen besonders nachhaltige Partner für ihre Endkunden sichtbar. In der Flugindustrie wird viel mit Biotreibstoffen gearbeitet. Plastik verschwindet zunehmend aus dem touristischen Angebot. Es wird immer mehr darauf ausgelegt, die Handlungen der Touristen im Sinne einer nachhaltigeren Entwicklung zu beeinflussen. Nicht überall gelingt der Fokus auf «Qualitätstourismus» und wirtschaftliche Interessen haben oft und schnell wieder Oberhand - aber es hat sich in den letzten beiden Jahren doch schon einiges verändert.

Das ist ein langsamer Prozess, der nicht über Nacht passiert - da ändert auch die Pandemie-Zäsur nichts dran. Und da, wo der Tourismus diesen Prozess nicht genügend beeinfluss kann oder einfach nur Greenwashing betreibt, muss eben die Politik eingreifen: Zugangsbeschränkungen, vielleicht ein Kompensationszwang, Abstrafung von Anbietern, die sich nicht an Nachhaltigkeits-Grundsätze ändern. Ebenso darf der Tourismus nicht einfach unermesslich weiter wachsen, mit immer neuen Hotels in immer abgelegeneren Regionen, was Einheimische und Tiere wiederum verdrängen würde.

Ich würde es so formulieren: Die Reisebranche sollte, im eigenen Interesse, darum bemüht sein, dass Reisen nicht mehr einfach eine «Convenience» ist, sondern wieder einen bleibenden emotionalen Wert hat. Die Politik sollte hierfür auch Anreize schaffen, sowohl für Anbieter wie auch für Endkunden. Und auch wenn vorerst wieder ein «Overtourism-Sommer» droht - die Branche kriegt das in den Griff!