Future

Wollen wir die Welt virtuell erleben oder in echt? Zukünftig wird dies wohl hybrid geschehen. Bild: AdobeStock

Virtueller Tourismus: Gefahr oder optimale Ergänzung?

Jean-Claude Raemy

Das vielbeschworene Metaverse eröffnet zahlreiche neue Möglichkeiten, auch und gerade im Tourismus. Sehenswürdigkeiten virtuell zu bereisen wird zum Trend - doch wird damit Konkurrenz zum herkömmlichen Tourismus geschaffen, oder eher ein Sprungbrett für diesen? Nehmen Sie an unserer Umfrage teil.

Reisen bildet, Reisen ist toll - Reisen ist aber auch anstrengend und mit vielerlei Risiken verbunden, und für viele auch nicht erschwinglich. Doch Technologie eröffnet hier neue Möglichkeiten: In naher Zukunft müssen Sie vielleicht nicht mehr in ein Flugzeug steigen, um zu reisen. 5G kann eine neue Art von Tourismus ermöglichen - eine, in welcher man ein menschenleeres Venedig besuchen kann, in welcher man virtuell an einem Live-Event in Seoul teilnimmt oder sogar durch die Strassen des antiken Pompei schlendert. Das klingt doch selbst für Reise-Puristen verlockend.

Grosse Technologieunternehmen wie Amazon, Microsoft oder Meta (das frühere Facebook) arbeiten intensiv an ihren eigenen Versionen des Metaversums; sogar Disney ist dort dran. Dazu gibt es diverse Tech-Unternehmen wie Equinox oder Delta Reality, welche bereits aktiv an Tourismusagenturen herantreten, um interaktive oder Game-ähnliche Augmented-, Virtual- und Mixed-Reality-Inhalte zu entwickeln, in denen Reiseziele neu erlebt werden können.

Wir sprechen hier nicht von den VR-Brillen, welche bereits vor fünf Jahren ein Hype waren und Messe- oder Reisebesucher einen speziellen Blick auf bestimmte Attraktionen bescherten (Travelnews berichtet beispielsweise hier und hier). Es geht hier um die 5G-getriebene Konvergenz von Virtual Reality (VR), Extended Reality (XR), Spatial Computing und immersiver Technologie mit Blockchain, NFTs und Web3. Das ermöglicht bisher nicht mögliche Arten der Interaktion, welche eine unglaubliche emotionale Kraft entwickeln - sagen zumindest die Metaverse-Schaffer. Das persönliche Reise-Erlebnis wird natürlich nicht ersetzt, aber hier werden hochkarätige virtuelle Alternativen geschaffen, für welche das Interesse riesig ist. Deshalb können Reiseunternehmen und vor allem auch Reisedestinationen nicht einfach abseits stehen.

Korea gibt den Takt vor

Wie so oft gibt hier eines der innovativsten Länder weltweit den Takt vor: Korea. Im September 2021 kündigte Seoul als eine der ersten Grossstädte an, dass sie bis 2023 «meta» werden will. Eine Metaverse-Plattform namens «Metaverse Seoul» wird einige der wichtigsten Touristenattraktionen der Stadt zeigen. Im virtuellen Raum können Touristen über den Gwanghwamun-Platz, durch den Deoksugung-Palast oder über den Namdaemun-Markt spazieren, und sich in einer so genannten «Virtual Tourist Zone» all Eindrücke hereinziehen, ohne die Mühen einer persönlichen Reise auf sich nehmen zu müssen. Sie können im Metaversum sogar Seouls grössten Festivals beiwohnen, darunter das Laternenfest - umgeben von Hunderten von funkelnden Lichtern, aber nicht von Menschenmassen.

Und wie beim Beispiel von Pompei angedeutet, lassen sich auch vergangene Welten aufbauen und bereisen. Hier bewegt man sich aus der Kino- oder Gaming-Welt heraus in einen Erlebnisbereich, der bisher Bekanntes sprengt, und dem Tourismus eigentlich auch neue Möglichkeiten eröffnet. Die Ruinen von Pompei zu betrachten ist ein fantastisches Erlebnis - doch was, wenn man zusätzlich ein rekonstruiertes Pompei durchwandern kann? Hier werden Ergänzungsmöglichkeiten deutlich. Oder anders formuliert: Der virtuelle Tourismus kann als Sprungbrett für den realen Tourismus dienen.

Anfang 2022 startete Madrid eine kostenlose virtuelle 360-Grad-Tour auf Spanisch und Englisch für potenzielle Gäste, die sich informieren wollen, was sie bei einem persönlichen Besuch in Madrid sehen möchten. Anhand von rund 40 der beliebtesten Touristenattraktionen der Hauptstadt erhalten die Nutzer einen Eindruck von der Stadt und können ihre Plätze, Museen, Gärten, kulturellen Einrichtungen und Kathedralen erkunden. Haben die Besucher anschliessend keine Lust mehr auf Madrid? Wohl kaum, die Lust wird erst recht vorhanden sein.

Immer mehr Museen ermöglichen virtuelle Rundgänge. Der Besuch im Inneren der Pyramiden wird auch für Personen mit beschränkter Mobilität möglich, zumindest virtuell. Eintauchen in die Unterwasserwelt können auch Nicht-Taucher. Die Möglichkeiten sind endlos, und dabei steht Metaverse eigentlich erst am Anfang. Ob es eine ähnlich distruptive Kraft wie das Internet entwickelt, bleibt abzuwarten. Darauf hin gearbeitet wird jedenfalls.

Die Möglichkeiten erkennen

Höhere Übertragungsgeschwindigkeiten, geringere Latenzzeiten und enorme zusätzliche Rechenleistung in Basisstationen und Netzwerkknotenpunkten ermöglichen übrigens, die Metaverse-Inhalte auch von unterwegs, beispielsweise auf Wearables (die berühmten Smartbrillen und dergleichen), zu erleben. Grafiken können in der Cloud gerendert werden, wodurch ein nahtloses virtuelles Reiseerlebnis ermöglicht wird und sogar die Verschmelzun von echtem und virtuellem Inhalt vor Ort denkbar macht.

Die Reisebranche welche gerade aus zwei Jahren Pandemie-Koma erwacht, erhält hier einen neuen Teilbereich, den sie nicht als Konkurrenz, sondern Ergänzung verstehen sollte. 5G und Metaverse-Plattformen werden neue Inspirationen und Träume schaffen, jedoch das persönliche Erlebnis nicht verdrängen können. Es ist denkbar, dass manche die Sicherheit einer virtuellen Reise vorziehen werden, während andere die digitale Welt völlig hinter sich lassen wollen. Neue Möglichkeiten schaffen neue Märkte und neue Bedürfnisse und verändern etablierte Industrien. Die Tourismusbranche wird sich vor Metaverse nicht verschliessen können.

Sprich: Man wird über die Nutzung von VR, um ein Reiseziel oder ein Reiseerlebnis vorzustellen, hinausgehen müssen. Reiseunternehmen werden eine virtuelle Interaktion mit Konsumenten im Metaverse aufbauen müssen, also virtuelle Läden, die nicht mehr «eindimensional» wie die Zoom-Beratung sind, sondern beispielsweise einen virtuellen Laden beinhalten, in welchem multimedial auf ein Reiseziel eingestimmt wird. Die virtuellen Wände des Ladens könnten verschwinden, um den Kunden im Metaverse an den gewünschten Reiseort zu versetzen, oder ihm einen Vorgeschmack auf ein bestimmtes Hotel oder eine bestimmte Tour zu geben. Und am Ende werden die immersiven, komplexen Erfahrungen innerhalb des Metaversums - wie sie Seoul jetzt vorsieht - völlig normal sein. Dann lassen sich Reiseziele an den entferntesten Orten der Welt besuchen. Oder, warum nicht, Atlantis...