Flug

Kommentar Das grosse Raten bei der Planung

Jean-Claude Raemy

Das Chaos in der Luftfahrt dürfte noch eine Weile andauern, denn das Kundenverhalten und die Planungsprobleme innerhalb der Luftfahrts-Wertschöpfungskette befinden sich in einem toxischen Wechselspiel.

Das Wort «Flugchaos» war der wohl prägendste medial verwendete Begriff in diesem Sommer. Ich kann zwar aufgrund meiner eigenen Flugreise-Erfahrungen in diesem Sommer nicht von Chaos sprechen - zumindest nicht, was die Flughäfen Zürich und Bergen sowie Wien angeht - aber man hat ja zur Genüge Klagen von Passagieren gehört, die Chaos erlebt haben. Die Rede war von überfüllten Terminals, langen Warteschlangen beim Check-in, bei der Security, bei den Taxiständen. Man hörte von Annullierungen, Verspätungen und einem gigantischen Gepäckchaos mit Hunderten wenn nicht Tausenden Fällen von verspäteten oder komplett vermissten Gepäckstücken - ein Problem, das anhält.

Die Freude über die rasche Rückkehr der Nachfrage und der Reisetätigkeit im Frühjahr sorgte zunächst für Schmunzeln über das Chaos - klar, das gehört ja etwas dazu. Aber die Dimensionen sprengten offenbar alles bisher Gesehene, und aus Amüsement über das Chaos wurde Wut und schliesslich gar Resignation.

Der Kern des Problems ist natürlich das mangelnde Personal. Während sich die meisten Medien auf Airlines einschiessen und den Piloten- und Flugbegleitermangel beleuchten, muss man nüchtern festhalten, dass sich die Personalkrise über die gesamte Branche erstreckt: Nebst Fluggesellschaften sind auch deren Vertragspartner betroffen, dazu die Flugsicherung, Sicherheitskräfte, die Vertriebspartner, ja sogar der Einzelhandel und die Gastronomie an den Flughäfen. Die Ursachen sind schnell gefunden: Auf dem Höhepunkt der Covid-Pandemie wurden vielerorts und in Summe Tausende von Mitarbeitenden entlassen - und es wurde versäumt, das Personal genügend schnell wieder aufzustocken, als sich die Lage normalisierte. Dadurch stehen jetzt Airlines und viele andere Unternehmen dumm da. Doch so einfach, wie es sich die notorisch klagenden Fingerzeiger machen, ist es eben nicht gewesen.

Das sah niemand kommen

Denken Sie einfach an die Anfänge von Covid anfangs 2020 zurück. Da wurde das Phänomen zuerst kleingeredet. Dann ging es ganz schnell in einen fast globalen Lockdown. Sogar die krisengewohnte Reisebranche hatte so etwas nie erlebt und kämpfte sehr schnell und sehr verzweifelt um ihr nacktes Überleben. Und man weiss: In Krisenzeiten fallen in der Regel zuerst das Marketingbudget, dann die Personalkosten. Das wurde seinerzeit sogar noch von Verständnis begleitet - zumal Airlines beileibe nicht die einzigen waren, die Personal abbauen mussten.

Und nun sind wir beim Kern des Problems: Es war für niemanden absehbar, wann und in welchem Umfang die Fluggäste zurückkehren würden. Reisebeschränkungen, Grenzschliessungen, Covid-Wellen und neue Varianten - die Situation änderte sich bis weit ins 2021 hinein quasi von Woche zu Woche, nichts war sicher. Die optimistischen Prognosen in dieser Zeit liefen darauf hinaus, dass mit einer Rückkehr der Zahlen frühestens 2024 zu rechnen sei. Die Rede war vom «Nike Swoosh», also der allmählichen, schrittweisen Rückkehr der Nachfrage über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Als dann Covid mit den im Herbst 2021 sukzessive fallenden Covid-Massnahmen in vielen - aber beileibe nicht allen! - Ländern für vorbei erklärt wurde, erfolgte jedoch eine regelrechte Nachfrage-Explosion, welche in dieser Stärke kaum zu erwarten gewesen war.

Die Logistik im Luftverkehr, schon in normalen Zeiten eine Herausforderung, war schnell komplett überfordert. Man kann den Airlines vorhalten, dass sie die Ticketverkäufe gerne tätigten, ohne dass sichergestellt war, dass die Flüge operativ überhaupt durchführbar waren. Als es darum ging, ihre Flotten und ihr Personal aufeinander abzustimmen, taten sie das, was sie für das Beste hielten, und hofften auf das Beste. Einige schätzten besser als andere. Und genau das war es zu einem grossen Teil: Schätzung. Oder besser: Raterei.

Die ganze Nachfrageprognostik wurde von Covid komplett über Bord geworfen. Die Planung und Durchführung eines Passagierfluges ist eine komplexe Angelegenheit. Jedoch wird derzeit alles kurzfristig gebucht. Dass Planung und Realität dann teils weit auseinanderklaffen, ist bedauerlich, in gewisser Weise aber auch nachvollziehbar. Wer den Airlines nicht traut, bucht weiterhin kurzfristig. Dabei würde gerade langfristiges Buchen doch den Airlines bessere Planungsmöglichkeiten verschaffen, und damit (hoffentlich) für weniger kurzfristige Annullierungen sorgen!

Jetzt, wo der Sommer ausklingt, fragt man sich, wie die zumindest in der Schweiz praktisch ebenso wichtige Herbstsaison aussehen wird. Da dem Vernehmen nach wenige Vorausbuchungen in den Büchern sind und folglich auch im Herbst möglicherweise wieder viel und kurzfristig gebucht wird, könnte sich die Situation hinsichtlich Annullierungen, Sicherheits- und Abfertigungsschlangen oder gar Flugbeschränkungen (wie in London oder Amsterdam verhängt) wiederholen. Die Herbstferien beginnen in rund acht Wochen. Sind bis dann die Personalsituation bei allen Airlines etc. und das Gepäckchaos an vielen Flughäfen im Griff? Zweifelhaft.

Pilotenmangel lässt sich nicht so schnell beheben

Nehmen wir den Pilotenmangel als Beispiel. Da gibt es natürlich einen kurzfristigen, pandemiebedingten Mangel. Ein Pilot muss einwandfrei trainiert sein - nicht nur bei der Erstausbildung, sondern immer wieder, etwa beim Wechsel des bedienten Flugzeugtyps, bei einer Beförderung in eine andere Funktion, und natürlich um «à jour» zu bleiben. Der sprunghaft angestiegene Bedarf an Piloten stellt nun Ausbildungsunternehmen bzw. -abteilungen vor grosse Probleme. Der Mangel an Piloten ist teils also auch auf eine Überlastung des Ausbildungssystems zurückzuführen.

Es gibt aber auch einen systemischen Mangel, der weiter zurückgeht als nur zu den Anfängen der Pandemie. Piloten, ursprünglich eine angesehene Berufskaste, waren gerade bei kleineren, gewerkschaftlich weitgehend unrepräsentierten Airlines tendenziell mit eher schwachen Gehältern und schwierigen Arbeitsbedingungen konfrontiert. Während manche Piloten bei etablierten Airlines um ihre Annehmlichkeiten kämpften, die im harten Konkurrenzumfeld vielleicht arrogant wirkten, mussten andere unten durch, um sich den Traum vom Fliegen überhaupt ermöglichen zu können - etwa indem sie teure Ausbildungen komplett aus eigenem Sack zahlen mussten. Das machte den Pilotenjob für viele unattraktiv, der Lack war ab. Jetzt wird für adäquate Anstellungen teils auch gestreikt, während Startup-Airline Piloten mit Gehältern ködern, die es in den letzten Jahren in der Höhe nicht gab. Vielleicht hätte es gar nicht erst zu einem langfristigen Pilotenmangel kommen müssen, wenn man den Job nicht derart abgewertet hätte.

Ein weiteres Problem ist die chronische Überlastung des Luftraums infolge komplexer Flugrechts-Situationen. Die Gesamtzahl der Fluggäste liegt immer noch unter jener von 2019, trotzdem merkt man, dass das System die maximale Kapazität längst überschritten hat. Zieht irgendwo ein Sturm auf oder gibt es eine sonstwie unerwartete Unterbrechung, kommt es sogleich zu gigantischem Rückstau. Vielleicht sollte man wieder mehr Flüge zusammenlegen? Statt 1000 Point-to-Point-Flüge zwischen Kleinstmärkten doch wieder ein gut an den ÖV angebundenes Hub-System stärken? Emirates hat jüngst gesagt, dass sie nicht nur das Ende des A380 bedauert, sondern künftig eigentlich sogar grössere Flugzeuge benötigt. Sogar der Kurzstrecken-Grossraumjet scheint ein zurückkehrendes Konzept zu sein, wie man auch in der Pandemie teils sah. Mit dem A380 von Zürich nach Paris? Was wie der Alptraum jeder umweltbewussten Person klingt, könnte unter dem Strich sogar Sinn machen: Weniger Flugbewegungen, weniger Chaos und Verstopfung, direkter kurzer Flug mit maximaler Kapazität.

Geduld und längerfristige Planung der Endkunden sind die Schlüssel

Wann wird also der Wahnsinn enden? Wird er enden? Werden die Flugrouten vereinfacht? Können die Airlines ihre Flugpläne in ein System einbauen, das etwas mehr Flexibilität besitzt als das aktuelle? Ich denke, die Personalsituation wird sich etwas entspannen, es wird da und dort Optimierungen geben. Aber vorerst werden wir eine gewisse Portion Chaos als «new normal» akzeptieren müssen. Manche wird das stören, manche werden vielleicht weniger fliegen, aber einen grossen Zerfall der Nachfrage gibt es deswegen nicht zu erwarten: Reisende haben eine bemerkenswerte Fähigkeit, sich an alles anzupassen, egal wie absurd oder unbequem - wir haben die zusätzlichen Kontrollen nach 9/11 ebenso geschluckt wie die meisten Covid-Massnahmen.

Besserung wird also ein Zusammenspiel aus effektiver Besserung und verringerter Erwartungshaltung sein. Und wenn die fliegende Kundschaft dann wieder längerfristig bucht, und somit die Airlines weniger raten müssen bei ihrer Planung, wird sich das System hoffentlich so weit einpendeln, dass das Fliegen wieder angenehm ist und nicht jedes Mal mit operationellen Ängsten verbunden ist. Vorläufig muss man sich aber wohl weiterhin eine gehörige Portion Geduld mit in den Koffer packen.