Flug
Das Flugchaos zieht sich in die Länge
Das Wort «Flugchaos» scheint zum Reise-Schlagwort 2022 zu werden - so wie es seinerzeit «Overtourism» im Jahr 2019 war. Travelnews argumentierte zwar jüngst, dass beileibe nicht nur Chaos herrscht im Flugverkehr. Doch immer neue Meldungen von Flugstreichungen, langfristigen Gepäckverlusten und Kapazitätsbeschränkungen an Flughäfen tun nichts dazu, die Nerven besorgter Reisender im Sommer zu beruhigen.
Während man sich darauf eingestellt hat, dass es einen «heissen Sommer» gibt, hofften einige, dass mit dem Wintergeschäft Normalität einkehrt. So offenbar auch die EU-Kommission, welche angekündigt hat, dass ab dem Winterflugplan wieder zur herkömmlichen Slotregelung zurückgekehrt wird. Die Rede ist von der «80:20»-Slotregel, wonach Airlines 80 Prozent ihrer verbrieften Start- und Landerechte (eben Slots) tatsächlich benutzen müssen; bei Nichteinhaltung müssen die wertvollen Slots abgetreten werden. Die Regel macht natürlich insofern Sinn, als dass so Airlines nicht einfach auf Slots sitzen können, die nicht geflogen werden, wodurch der Wettbewerb eingeschränkt würde.
Doch der Wettbewerb ist aktuell gar nicht das Problem, sondern der Flugbetrieb per se. Wie der Weltluftfahrtverband IATA in einem Schreiben festhält, trage die «voreilige» Rückkehr zur präpandemischen Slotregel dazu bei, das aktuelle Flugchaos zu verlängern. Warum? Die IATA schiebt die Schuld geradewegs den Flughäfen zu, denn sie schreibt: «Die Fluggesellschaften sind zwar bestrebt, den Flugverkehr wieder aufzunehmen, aber da mehrere wichtige Flughäfen die Nachfrage nicht befriedigen können und die Verspätungen bei der Flugsicherung zunehmen, könnte eine verfrühte Rückkehr zur 80-20-Regel zu weiteren Beeinträchtigungen für die Fluggäste führen. Die bisherigen Anzeichen in diesem Sommer sind nicht gerade ermutigend. Die Flughäfen verfügten im Januar über die Flugpläne für die Sommersaison 2022 und die endgültigen Slot-Bestände und haben nicht rechtzeitig geprüft, wie sie damit umgehen können. Wenn Flughäfen erklären, dass die volle Kapazität zur Verfügung steht, und dann von den Fluggesellschaften verlangen, in diesem Sommer Kürzungen vorzunehmen, zeigt dies, dass das System nicht bereit ist, die normale Nutzung von Slots in dieser Wintersaison (die Ende Oktober beginnt) wieder aufzunehmen.»
Swiss bietet im Winter rund 80% der früheren Kapazität an
Natürlich macht es sich die IATA hierbei etwas einfach. Eine pauschale Schuldzuweisung an Flughäfen ist genausowenig sinnvoll wie eine generelle Schuldzuweisung an Fluggesellschaften. Einige von diesen haben sich aber bei der Ankündigung der Sommerflugpläne auch verrechnet. Die Personalbestände sind vielerorts nicht da, wo sie sein müssten, um das (verkaufte) Angebot operativ aufrecht erhalten zu können.
Einfach ausgedrückt: Die Nachfrage kam viel schneller zurück, als dies auf Angebotsseite - ob Airline oder Flughafen - gehandhabt werden kann. Die IATA verlangt deshalb nun eine noch länger andauernde Aussetzung der Slotregel, welche bereits im März 2020 ausser Kraft gesetzt wurde. Man erinnert sich: Als die EU vor fast genau einem Jahr ankündigte, dass ab Winterflugplan mindestens 50% der Slots genutzt sein müssten, gab es ebenfalls schon einen Aufschrei von Seiten der IATA (Travelnews berichtete). Auch damals sagte die IATA, dass die EU-Kommission «an der Realität vorbei» plane.
Wie sieht denn die Realität aus? Travelnews hat bei Swiss nachgefragt. Dort war im vergangenen Dezember angekündigt worden, dass man im Sommer 2022 bereits wieder 80 Prozent der präpandemischen Kapazität anbieten würde (siehe hier). Hat sich diese Zahl infolge diverser Flugstreichungen deutlich verändert? Swiss-Sprecherin Karin Montani verneint: «Diesen Sommer bieten wir noch immer zwischen 70 und 80 Prozent der Kapazität von 2019 an. Für den Winterflugplan planen wir rund 80 Prozent der Kapazität im Vergleich zu vor Corona anzubieten.»
Was heisst, dass aufgrund der weiterhin verringerten Kapazität das präpandemische Slotregime nicht konsequent umgesetzt werden kann. Auf die Rückkehr der herkömmlichen Slotregelung angesprochen, erklärt Montani die Haltung der Swiss wie folgt: «Die aktuelle Situation zeigt, dass sich der Luftverkehr in Europa nach Corona noch nicht normalisiert hat. Dem sollten die Slotregeln Rechnung tragen. Die Kapazitäten im gesamten System sind noch längst nicht wieder auf Vorkrisenniveau. Zudem ist nach wie vor ungewiss, welchen Verlauf die Pandemie im Winter nehmen und wie sich das auf den Luftverkehr auswirken wird. Deswegen ist auch für den kommenden Winterflugplan eine flexible und praktikable Slotregulierung nötig.»
Selbst wenn die EU einlenkt, garantiert das aber nicht einen reibungslosen Flugverkehr; es würde einfach die Airlines vor schmerzhaften Slotverlusten schützen. Die Frage ist, ob Flughäfen und Fluggesellschaften in drei Monaten (per Ende Oktober) bereits wieder bereit sein werden, um schon nur 80 Prozent der früheren Nachfrage reibungslos zu bedienen. Inzwischen wird vielerlorts davon ausgegangen, dass sich die Situation im Luftverkehr wohl erst wieder im Frühjahr 2023 normalisieren wird...