Flug

Ausgangspunkt für das neue Urteil des EuGH war ein klagender SAS-Passagier. Bild: AdobeStock

Wegweisender Gerichtsentscheid für streikgeplagte Flugreisende

Der Europäische Gerichtshof hat die Rechte von Flugreisenden im Falle von Streiks gestärkt. Das erfreut Konsumenten und Gewerkschaften, macht für Airlines dagegen den Umgang mit dem eigenen Personal delikater - und bildet ein grosses finanzielles Risiko.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat gestern Dienstag (23. März) einen Entscheid im Bereich der Luftfahrt gefällt, welcher weit reichende Folgen haben dürfte. Konkret geht es darum, dass Passagieren das Recht auf Entschädigung eingeräumt wird, wenn der Flug wegen eines angekündigten Streiks von Airline-Mitarbeitenden gestrichen wird bzw. stark verspätet ist.

Ausgangspunkt des Gerichtsentscheids war ein klagender schwedischer Passagier von Scandinavian Airlines (SAS). Im Jahr 2019 war sein Flug gestrichen worden, weil das SAS-Flugpersonal im Rahmen von Lohnverhandlungen in Streik getreten war. SAS musste damals 4000 Flüge streichen; 400'000 Personen waren betroffen. Auf deren Klagen konnte SAS bislang erfolgreich auf die Regelung verweisen, wonach gemäss der EU-Verordnung EU261 eine Airline nicht bezahlen muss, wenn sie «alles in ihrer Macht mögliche getan hat, um eine Verspätung oder Annullierungen zu umgehen.» Man versteht SAS natürlich: Wenn jeder der 400'000 Passagiere 250 Franken Kompensation erhält, kämen Kompensationskosten von 100 Millionen Franken zusammen. Doch das Fluggastrechtsportal Airhelp zog den Fall vor ein schwedisches Gericht, welches anschliessend den EuGH um einen Grundsatzentscheid bat. Dieser liegt nun vor - und geurteilt wurde nicht im Sinne der Airline(s), sondern der Passagiere.

Die Regelung lautet: Damit ein «aussergewöhnlicher Umstand» vorliegt, welcher eine Fluggesellschaft von der Entschädigungspflicht entbindet, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Erstens darf das Ereignis, das zu Behinderungen führte, nicht «Teil der normalen Betriebstätigkeit» sein, und zweitens darf es von der Airline «nicht beherrschbar» sein. Will heissen: Streiks als Resultate von Lohnverhandlungen werden als «beherrschbar» eingestuft und damit gleich gewichtet wie etwa ein technischer Defekt. Nicht unter diese Regelung fallen dagegen Streiks von Mitarbeitenden anderer Unternehmen - zum Beispiel von Fluglotsen oder Flughafenpersonal - sowie Streiks, bei denen Forderungen nicht von der Airline selber, sondern beispielsweise nur von staatlichen Stellen erfüllt werden können.

Der EuGH-Entscheid stärkt also nicht nur Passagiere, sondern auch Gewerkschaften, und stellt Airlines vor delikate Aufgaben bei Verhandlungen. Wie bereits oben beispielhaft gezeigt, kann ein Streik, der nicht als «aussergewöhnlicher Umstand» eingestuft wird, schnell extrem teuer werden. Der Entscheid ist auch ein Standard für die Behandlung von Streikfällen, da dieser für alle EU-Länder und Fluggesellschaften verbindlich ist. Was nicht heisst, dass es in der Auslegung der Klagen von Passagieren (und entsprechenden Verteidigungen von Airlines) vor nationalen Gerichte weiterhin zu unterschiedlichen Urteilen kommen kann. Airhelp jedenfalls sieht den EuGH-Entscheid als grossen Erfolg. Für die Airlines dagegen ist es eine zweite Schlappe vor dem Gerichtshof: Schon 2018 war dort geregelt worden, dass Airlines im Streikfall nicht automatisch von ihrer Entschädigungspflicht befreit sind. Damals ging es um wilde Streiks bei TUIfly im Nachgang zu Umstrukturierungen.

SAS wird allerdings nicht gleich zur Kasse gebeten. Die Airline zeigte sich «überrascht» vom EuGH-Entscheid und verwies darauf, dass die Klage am Gericht von Attunda in Schweden fertig behandelt wird. Erst wenn ein Entscheid des schwedischen Gerichts vorliegt, wird SAS diesen befolgen - bis auf Weiteres wird auf die bisherige Praxis verwiesen, gemäss welcher keine Kompensationszahlung nötig ist.

(JCR)