Ferienland Schweiz

Josy Germanier am Steuer des Postautos nach Derborence VS: Die Fahrt ist adrenalingeladen. Die schmale Strasse schlängelt die sich entlang massiver Felswände und hunderte von Metern über der Lizerne. Bilder: Markus Fässler

Eine Postautofahrt am Abgrund

Markus Fässler

Eine tiefe Schlucht, hoher Puls, senkrechte Felswände und der Teufel: Die Fahrt von Sion nach Derborence gehört zu den spektakulärsten Postautolinien der Schweiz. Wir haben uns ins Abenteuer gestürzt.

Es gibt sie, diese Momente im Leben, in denen man sein Schicksal in die Hände anderer legen muss. An diesem Tag sind es diejenigen von Josy Germanier (60). Er sitzt am Steuer des Postautos, auf dessen elektronischer Anzeige über der Frontscheibe «331 Derborence» steht.

Wir halten an der Station «Aven, pl. St-Bernard». Germanier schaltet das Radio und die Lüftung aus und öffnet das Seitenfenster. «So habe ich eine grössere Chance, herunterfallende Steine früh genug zu hören», sagt er. Beim Blick aus dem Postauto wird klar, was er damit meint. Vor uns öffnet sich ein tiefer, von steilen Felswänden flankierter Schlund. Steinschläge fallen im Tal mit Derborence als letztem Ort im Kessel täglich.

Keine Zeit für Gebete

Für Germanier ist das, was jetzt folgt, quasi Alltag. Für die meisten Reisenden hingegen ist es ein echtes Abenteuer. Seit 31 Jahren bedient der Walliser Postautochauffeur die Strecke von Sion via Conthey, Erde und Aven nach Derborence. Das beruhigt, denn die Route gehört zu den spektakulärsten, anspruchsvollsten und gefährlichsten Postautolinien der Schweiz.

Dabei beginnt die Fahrt nahezu harmlos. Kurz nach Conthey schlängelt sich das Postauto die Strasse hinauf nach Aven. Übermütige Wolken verdecken die Sonne hin und wieder, morgendliche Nebelschwaden schweben durch die üppig mit Weintrauben behangenen Reben. Postkartenromantik. Der letzte, rund 14 Kilometer lange Abschnitt nach Derborence hat es dann aber in sich. Ihn als unromantisch zu bezeichnen, wäre vermessen. Die Fahrt ist adrenalingeladen. Da ist diese schmale, keine zwei Spuren breite Strasse, die sich entlang massiver Felswände und hunderte von Metern über der Lizerne schlängelt. Nur gerade neun aktive Postautochauffeure trauen sich, hier mit Passagieren rauf und runter zu fahren.

Angekommen in Derborence, diese abgelegenen Alp auf knapp 1500 Metern über Meer.

Für Gebete ist in der Kapelle bei der Haltestelle «Aven, pl. St-Bernard» keine Zeit. Germanier drückt sanft aufs Gaspedal, das Auto fährt ins Tal. Auf eine unübersichtliche Kurve folgt die nächste. Germanier steuert ruhig entlang der steilen Felswand. Dabei betätigt er wiederholt das Horn, um entgegenkommende Fahrzeuge zu warnen.

Zwar gibt es über die Sommermonate – im Winter ist Derborence komplett von der Aussenwelt abgeschnitten – mit Abfahrt in Sion um 9.04 und 14.04 Uhr nur zwei Verbindungen. Doch, wer hier mit dem Auto unterwegs ist, sollte den Postautofahrplan genau studieren: Kreuzen ist auf der schmalen Strasse kaum möglich – und wer jäh das Postauto vor sich hat, muss den Rückwärtsgang einlegen.

Millimeterarbeit

Germanier fährt weiter vorwärts auf ein dunkles Loch zu. Es ist der erste von diversen in die aus Kalk und Kreide bestehenden Felsen gehauener Tunnel.

1951 startete der Bau der Strasse nach Derborence. Acht Jahre später wurde der Postautobetrieb aufgenommen. Erste Erwähnung fand die Route ebenfalls 1958 als Streckenverlängerung der Linie Sion-Erde-Aven im Tätigkeitsbericht des Automobildienstes PTT.

In jedem Tunnel braucht es Fingerspitzengefühl. Denn auch in ihnen gibt es Kurven. Der Berg gab den Strassenverlauf vor. Vor, zurück, sich vorsichtig herantasten: Millimeterarbeit ist gefragt. Früher war das etwas einfacher. Die Postautos waren 2,30 Meter breit. Heute sind sie 2,50, mit ausgeklappten Spiegeln gar 2,80 Meter. Zudem sind die Wagen in die Höhe gewachsen. All das sind zusätzliche Hürden für die Chauffeure.

Immerhin: Seit kurzem können Sie via Handy ein Rotlicht aktivieren, so dass entgegenkommende Fahrzeuge 15 Minuten vor der Tunneleinfahrt warten müssen. Das verhindert in vielen Fällen ein Aufeinandertreffen in den dunklen Abschnitten, die nur durch wenige, in die Wände gehauenen «Fenster» mit Licht versorgt werden.

Blick in die Tiefe, Puls in die Höhe

Wieder im Tageslicht geht die Fahrt spektakulär weiter. Zur Linken geht es Hunderte von Meter in die Tiefe. Der Puls steigt, das Auge hält in der beinahe senkrecht abfallenden Felswand nach Auffangmöglichkeiten Ausschau. Vergeblich. Wer nicht ganz schwindelfrei ist, sollte deshalb in Richtung Derborence auf der rechten und auf der Rückfahrt auf der linken Seite Platz nehmen.

Plötzlich versperrt ein Bagger Germanier den Weg: die Strassenwärter. Wie so oft haben sie die Strasse in der Nacht und am frühen Morgen von Geröll und Schmutz befreit und dafür gesorgt, dass die Strecke befahrbar ist. Tags zuvor wäre für den Postautobetrieb in Aven Endstation gewesen. Heftige Gewitter zogen über die Region. Bei den Einheimischen gibt es seit jeher das Gebot: Wenn es regnet, fährt man nicht nach Derborence. Wer schon oben ist und zurück will, wartet, bis der Regen aufhört.

Das Werk des Teufels

Nachdem Germanier die tiefe Schlucht hinter sich gelassen hat, führt die Fahrt durch eine andersartige Landschaft. Anstelle des Graus dominiert das Grün. Bäume und Wiesen säumen die Flächen. Das Ende der Fahrt ist dann unerwartet unspektakulär. Germanier stellt das Postauto in Derborence auf einem unscheinbaren Kiesplatz ab, der auch zugleich als öffentlicher Parkplatz dient.

Derborence, diese abgelegene Alp auf knapp 1500 Metern über Meer, im Kessel liegend und umgeben von hohen Bergen wie dem Les Diablerets. Die heutige Idylle mit dem Bergsee, den über die grünen Hänge verstreuten Chalets und der Ruhe lässt nicht vermuten, welche Katastrophe sich hier 1714 abgespielt hat. Der wahrhaftige Teufel – das glaubten zumindest die Menschen damals – warf erzürnt Steine vom Berg. Der folgenschwere Felssturz forderte 14 Tote, kostete 120 Kühen das Leben und begrub 55 Chalets unter den Steinmassen. Grund für den Pfarrer von Aven, sich auf nach Derborence zu machen, um dem Ort den Teufel auszutreiben.

Doch bereits 1749 donnerten die monströsen Steinbrocken erneut Richtung Derborence. Dieses Mal waren die Älplerinnen und Älpler gewarnt und verliessen das Gebiet rechtzeitig. Die Felsmassen verteilten sich auf eine Länge von 5 Kilometern, 1,8 Kilometern Breite und türmten sich bis zu 100 Meter hoch. 40 Chalets verschwanden darunter, entstanden ist dafür der Lac Derborence, einer der jüngsten natürlichen Bergseen der Schweiz. Seit mehreren Jahrzehnten ist hier Naturschutzgebiet.

Mittlerweile befinden sich mehr als 260 Hektaren unter der Obhut von Pro Natura. Herzstück sind die 25 Hektaren Urwald. Dort stehen unter anderem bis zu 44 Meter hohe und 450 Jahre alte Tannen. Im unwegsamen Gelände rund um den See waren und sind sie vor Axthieben sicher.

30 Krankenschwestern in Schockstarre

Der eine und andere Passagier fühlt sich nach der spektakulären Fahrt in «Sicherheit» und geniesst einen Kaffee im «Refuge du Lac Derborence» mit Blick auf den Lac Derborence. Das «Refuge du Lac Derborence» ist der einzige Ort mit gastronomischem Angebot und Schlafmöglichkeiten direkt am See.

Hinter Josy Germanier liegen über eine Stunde höchste Konzentration. Trotzdem nimmt er sich gut gelaunt wie seit der ersten Minute Zeit für Fragen. Wir sitzen am Tisch, der dort steht, wo sich früher ein Gästezimmer befand. Just in diesem machte der Westschweizer Autor Charles Ferdinand Ramuz Notizen, um später die Geschichte des Ortes im Roman «Derborence» niederzuschreiben. Francis Reusser verfilmte das Buch 1985.

Gut gelaunt, auch nach einer Fahrstunde in höchster Konzentration: Josy Germanier.

Einen eigenen Film hätte eigentlich auch die Postautofahrt nach Derborence verdient. Gemäss Germanier befinden sich die gefährlichsten Stellen zwischen den Tunneln. Denn dort lösen auch Wildtiere Steinschläge aus. Und: «Auf der gesamten Strecke gilt: Anhalten, nur wenn es unbedingt sein muss», hält der gelernte Mechaniker fest, dessen Schwiegervater die Route bereits mit dem Postauto bediente. Erlebt hat er in seinen 31 Jahren hinter dem Steuer dann auch schon einiges.

Besonders in Erinnerung blieb ihm ein Ereignis vor rund 15 Jahren. Damals besuchten 30 Krankenschwestern aus London Derborence. Bei der Fahrt zurück nach Sion donnerte eine Steinlawine auf die Strasse und türmte sich zwei Meter vor dem Postauto auf. «Ich konnte gerade noch bremsen. Wir mussten zurück nach Derborence und dort übernachten.» Auch beim erfahrenen Chauffeur sass der Schrecken tief. Aber: Die Freude am Postautofahren sei ihm trotzdem nie vergangen. In drei Jahren ist damit aber Schluss – altersbedingt. Vermissen wird er insbesondere die Begegnungen mit den Menschen in diesem abgelegenen Teil der Schweiz.

Dann heisst es aufbrechen, pünktlich um 11.45 Uhr geht es nach Sion. Zurück bei der Kapelle bei der Haltestelle «Aven, pl. St-Bernard» fühlt es sich an, als ob man förmlich aus einer Parallelwelt ausgespuckt wird und zurück im hier und jetzt ist. Ein letzter Blick zurück ins Tal hinterlässt bereits jetzt einen Anflug von Sehnsucht nach diesem kleinen Ort mit Namen Derborence.

Eine Hommage an die Fahrt aus dem Jahr 1960

Die Faszination der Fahrt nach Derborence infizierte die Passagiere schon früher. So findet sich im PTT-Archiv in Köniz BE folgender Text vom August 1960, verfasst von der unbekannten Autorin oder dem unbekannten Autoren J. St.:

«Wer so richtig abseits gehen und sicher sein will, am Ziel nicht die ganze Nachbarschaft von Zuhause anzutreffen, wird sich diese Fahrt an den Fuss der Diablerets nicht lange überlegen. In Sitten, dem Ausflugszentrum des mittleren Wallis, macht er ja ohnehin Station. Dort wartet sein Postauto, das ihn nahezu tausend Meter in die Höhe trägt.

Erst durch unbändig sonnenfrohes Rebgebiet, das erst kurz vor dem Dörfchen Erde aufhört. Im Rückblick tauchen mählich die beiden markanten Schlosshügel von Sitten auf, die Christusstatue auf der Anhöhe von Lens hält ihre Arme ausgestreckt, links unten macht sich die breite Rhoneebene immer weiter davon, und vor uns gereichen die leider allzuvielen Blechdächer von Aven der charaktervollen Landschaft nicht eben zur Zierde.

Aber schon ist dieser Gräuel unserm Blick entschwunden; jäh, unvermittelt biegen wir ins Tal der Lizerne ab und folgen nun bis ans Ziel seiner gewaltigen Schlucht, die so eng und tief ist, dass wir anfänglich ihren Grund nicht sehen können. Jenseits zieht sich – man sieht ihn andeutungsweise – der von Ardon aufsteigende Fusspfad. Wir aber schlängeln uns durch zwei lange Tunnels. Jawohl, wir schlängeln uns, denn diese Tunnels sind nicht schnurgerade gezogen; sie folgen den Ausbuchtungen der Felswand, die hier senkrecht abstürzt. Da und dort gibt ein <Fenster> den Blick in die schauerliche Tiefe frei, und dieser Wechsel von Licht und Dunkel gemahnt an die Fahrt auf einer Geisterbahn.»