Ferienland Schweiz
Das Hotel Castell Zuoz ist ganz der Kunst gewidmet
Artur K. VogelEs ist Samstag, der 14. September. Im Engadin ist vorübergehend der Winter eingebrochen. Es herrschen Minustemperaturen, und feine Schneeflocken schwirren durch die Luft. Tadashi Kawamata, ein 71-jähriger Herr in schwarz, sitzt an einem Tisch auf der hölzernen Terrasse des Hotels Castell hoch über Zuoz im Engadin und raucht eine Zigarette. Kawamata selber hat, knapp zwanzig Jahre ist es her, diese Sonnenterrasse mit Bänken und Tischen aus Lärchenholz gebaut, zusammen mit einheimischen Zimmerleuten und Helfern. Sie dient gleichzeitig als Verbindung zum Felsenbad mit seinem Reflecting Pool, den Kawamata schon 1997 aus einem alten Schwimmbad ebenfalls mit einer Holzkonstruktion entwickelt hatte, und der als Abkühlbecken für eine kleine Sauna genutzt wird.
Das Castell ist eine einzige grosse Kunstgalerie. Die Lobby, die Speiseräume, die Lounge-Bar, Flure und Treppenhäuser, aber auch die 68 Gästezimmer des Viersterne-superior-Hauses stehen und hängen voll mit Werken so unterschiedlicher Künstlerinnen und Künstler wie Roman Signer, Fischli und Weiss, Thomas Hirschhorn, Martin Kippenberger, Chantal Michel und vielen anderen. Zudem gibt es ein paar feste Installationen: Am meisten fällt neben der Holzterrasse und dem Pool der «Skyspace Piz Uter» des US-amerikanischen Land-Art-Künstlers James Turrell auf, ein steinerner Rundbau oberhalb des Hotels. Durch seine runde Dachöffnung ermöglicht er eine ständig ändernde Sicht auf die Licht-, Wolken- und Farbspiele am Himmel. Abends hängen die Gäste an der elegant geschwungenen Roten Bar ab, die von der Künstlerin Pipilotti Rist und der Architektin Gabrielle Hächler entworfen wurde.
Ständiges Auf und Ab
Der Hotelier und Weinhändler Hermann Gilli hatte noch nicht die Kunst im Sinn, als er Anfang des 20. Jahrhunderts beschloss, oberhalb des malerischen Dorfkerns von Zuoz mit seinen Jahrhunderte alten Engadinerhäusern ein schlossartiges Hotel zu bauen. Die Anlage besteht aus zwei mächtigen, voneinander abgewinkelten Flügeln und einem quadratischen Turm und trug den Anspruch schon im Namen: Castell.
Mit dem Hotel ging es mehrmals steil bergauf und steil bergab. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, musste die Familie Gilli schliesslich aufgeben. Das Hotel ging 1955 in den Besitz der Migros über. 1989 kaufte Lukas Kunz aus Bilten GL das Castell und verkaufte es sieben Jahre später an die heutige Eigentümerin, die Castell Zuoz AG. Deren Hauptaktionär ist der Zürcher Unternehmer Ruedi Bechtler. Durch seine Frau Regula Kunz Bechtler war er der vorherigen Besitzerfamilie bereits verbunden. «Wir mussten für das Castell ein Alleinstellungmerkmal finden», sagt Regula Kunz Bechtler, und fast sofort kam die Idee auf, im Castell jährliche Art Weekends abzuhalten. Das erste fand noch 1996 statt, vier Monate, nachdem die Bechtlers das Hotel erworben hatten. Dass das Castell zum Hort der Kunst wurde, ist kein Zufall: Ruedi Bechtler (81) ist nicht nur Maschineningenieur ETH und Unternehmer; er ist auch Künstler und Kunstsammler.
Turm von Babel aus alten Stühlen
Am Art Weekend 2024 vom 13. bis 15. September präsentierte Tadashi Kawamati seine Werke. Der Japaner lebt in Paris, ist aber in der halben Welt tätig, so auch in der Schweiz. Hier hat er zum Beispiel 1997 das Schulhaus Sternmatt II in Baar ZG mit einem Holzsteg mit Turm versehen, die kleine Arena auf dem Landsgemeindeplatz Zug mit einer Holzverkleidung zum Sitzen ausgestattet und den Zugang zum Kunsthaus Zug mit einer hölzernen Spur markiert, die vom Naturschutzgebiet entlang der Seepromenade durch die Altstadt führt.
In Uster baute Kawamati 2010 im Zellweger-Weiher eine schwankende Holzbrücke, die 2022 komplett erneuert wurde. Die «Drift Structure» genannte Installation gehört zum Museum der Bechtler Stiftung, das unmittelbar neben dem Zellweger-Park steht.
Besonders spektakulär war Kawamatis «Le Passage des chaises» in der Kapelle Saint Louis auf dem Gelände der Klinik La Salpêtrière in Paris. Die fast 400 Jahre alte Kapelle ist in Form eines griechischen Kreuzes angelegt, mit vier Seitenflügeln und einem zentralen Altarraum unter einer Kuppel. Dort stapelte Kawamata 20‘000 alte Stühle und Bänke aufeinander und errichtete so einen zehn Meter hohen, filigranen Turm, der einige Betrachter an den Turmbau zu Babel erinnerte, wie ihn Peter Brueghel der Ältere im 16. Jahrhundert dargestellt hatte.
«Nachtclub für Nachtfalter»
Neben Kawamatis temporären oder fest installierten Holzkonstruktionen präsentierte Florian Germann seine Werke. Witzig schilderte Germann, wie er als Schreinerlehrling scheiterte, danach eine Ausbildung als Steinbildhauer absolvierte und gleichzeitig begann, verrückte Happenings zu veranstalten, zum Beispiel ein Bergrennen mit einem schwer frisierten Töffli, das von seiner damaligen Freundin aus dem Kofferraum eines Taxis gefilmt wurde. 2004 bis 2008 studierte Germann an der Zürcher Hochschule der Künste und erwarb dort einen Bachelor in Bildender Kunst.
Der 46-jährige Künstler wandte sich in den letzten Jahren zunehmend der Kunst im öffentlichen Raum zu. Er demonstrierte eindrücklich, wie etwa die Skulptur «Nachtclub für Nachtfalter» an der Kantonsschule Wattwil entstanden ist. Oder er entwarf ein Werk für den Innenhof der Siedlung Eichrain in Zürich-Seebach: Die elf Meter hohe Skulptur ragt wie ein Baum in die Höhe; vier Plattformen docken an eine Säule an. Auf ihnen befinden sich eine Ziege, eine Schlange und Konstruktionen, die als Behausung für Wildbienen, Vögel und Fledermäuse dienen sollen.
Florian Germann baut jeweils Modelle im Massstab 1:10, und die 45 Interessierten, die am Art Weekend teilnahmen, folgten fasziniert dem Werdegang einiger seiner Werke von der Idee über das Modell bis zu Realisierung.
Der Nachwuchs steht bereit
Gina Fischli (35) schliesslich präsentierte am Art Weekend ihre bereits eindrückliche Werksgeschichte. Die Zürcherin studierte an der Hochschule für bildende Kunst Hamburg und an der Royal Academy of Arts London und lebte zwischenzeitlich auch in New York, bevor sie nach Zürich zurückkehrte. Sie hat bereits eine lange Reihe von Einzel- und Gruppenausstellungen vorzuweisen.
Besonders prägend, so befanden die britischen Medien, war ihre Ausstellung «Ravenous and Predatory» («Gefrässig und räuberisch») ab Oktober 2021 in London. Sie beflaggte eine Strasse mit Tierfotos. «Als erste Künstlerin überhaupt hängte Gina Fischli Banner in der Cork Street aus, dem Zentrum mit der höchsten Konzentration von Galerien in London und der geistigen und kulturellen Heimat der globalen Kunstwelt», kann man dazu in einem enthusiastischen Bericht lesen.
Gina Fischli ist die Tochter von Peter Fischli (72), einem der renommiertesten Schweizer Künstler, und die Enkelin des Bauhaus-Architekten, Malers und Bildhauers Hans Fischli (1909-1989). Dass die Kunst in der Familie weiterlebt, belegte die Künstlerin zum Schluss des Art Weekend am Sonntagmittag, als sie zusammen mit ihren Töchtern Valentina (9), die sich für Musik begeistert, und Roberta (4) eine Performance auf die Castell-Bühne brachte, welche die beiden Mädchen mit einer Sicherheit absolvierten, als wären sie schon ihr ganzes Leben lang öffentlich aufgetreten.