Ferienland Schweiz

Der Haupteingang zur Gotthardfestung ist eher unscheinbar, umso grösser ist die Überraschung, wenn man das Innere erkundet. Alle Bilder: HO

Dem Gotthard-Mythos nähergekommen

Artur K. Vogel

Sasso San Gottardo: Die einst geheime Artilleriefestung am Gotthardpass ist für das Publikum geöffnet und bietet faszinierende Einblicke in die Militärgeschichte, aber auch in den Gotthard-Mythos.

Die Gotthardfestung, von der letztmals 1998 Artilleriegranaten abgefeuert wurden, ist seit 2012 ein Museum. Weil der Start missglückte, wurde es ab 2014 von der Fondazione Sasso San Gottardo selber betrieben; Damian Zingg übernahm die Leitung; alsbald stellte sich der Erfolg ein: «Wir haben pro Jahr 15’000 bis 16’000 Gäste», sagt Zingg. Da die Saison nur gerade viereinhalb Monate dauert, sind das beachtliche Zahlen.

Dieses Jahr wäre die termingerechte Öffnung am 1. Juni fast missglückt. Ende Mai lag der Schnee noch vier oder fünf Meter hoch, erzählt Museumsleiter Damian Zingg: «Er war teilweise steinhart. Wir mussten rund zehn Tonnen Schnee vor den Eingängen zersägen und die Blöcke wegschaffen.»

Der Zweite Weltkrieg 

Die Festung erinnert an die prekäre Lage der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Mit der Kapitulation Frankreichs 1940 war unser Land von den nationalsozialistischen und faschistischen Regimen umzingelt. Hätten die Deutschen und Italiener angegriffen, wären das Mittelland und das Südtessin nicht zu verteidigen gewesen.

So informierte General Henri Guisan am legendären Rütlirapport am 25. Juli 1940 die höheren Offiziere der Schweizer Armee über den Plan, im Fall eines Angriffs die Verteidigung der Schweiz auf das Gebiet der Hochalpen mit den wichtigen Passübergängen zu konzentrieren. Ein grosser Teil der Schweiz wäre den Angreifern anheimgefallen.

Museumsleiter Damian Zingg erläutert die Funktionsweise einer Kanone. Jede Granate wog 40 Kilogramm und musste von Hand geladen werden.

Als Drehpunkt dieser Verteidigungsstrategie drängte sich der Gotthard auf. Es war und ist einer der wichtigsten Alpenübergänge, zudem Wasserscheide und Quellgebiet von Ticino, Rhône, Aare, Reuss und Rhein. Mit dem Bau der weitläufigen Artilleriestellung wurde 1941 begonnen. 1944, als sie fertig gebaut war, war der Krieg schon beinahe vorbei. Im Juli 1944 begann die Invasion der Alliierten in der Normandie.

Bangen im Kalten Krieg

Der Verteidigungswille der Schweizer wird durch niemanden besser verkörpert als durch General Henri Guisan (1874-1960). In einer Ausstellung im ehemaligen Lager für Artilleriegranaten wird «Le Général» nochmals lebendig. Am 31. August finden Feierlichkeiten zu Guisans 150. Geburtstag statt, und es wird ein Guisan-Denkmal enthüllt.

Wie die Kanoniere, Unteroffiziere und Offiziere hier hausten, dokumentieren hingegen die intakten Truppenunterkünfte und die Artilleriestellungen im oberen Teil der Festung. Diese wird durch eine Art unterirdische Metro für Besucher erschlossen, denen damit 500 Treppenstufen erspart bleiben. «Ich bin wohl der einzige Museumsdirektor der Schweiz mit einer Seilbahnkonzession», witzelt Damian Zingg.

Das Stollen-Bähnchen erspart den Besuchern 500 Treppenstufen.

Mit der Kapitulation von Italien und Deutschland 1945 hörte das Bangen allerdings nicht auf. Schon bald standen sich mit den USA und der Sowjetunion zwei neue mächtige Feinde gegenüber, beide mit potenziell weltvernichtenden Atomwaffen bestückt. Bis zum Kollaps der Sowjetunion galt diese als ständige Bedrohung. Erst ab 1990 beruhigte sich die Weltlage, nur, um seit einigen Jahren wieder bedrohlich zu werden.

Der erste Gotthard-Influencer

Neben der Landesverteidigung kommen in der Gotthardfestung auch Themen wie der Mythos Gotthard, Kultur und Natur nicht zu kurz. So befindet sich im unteren Teil der Festung eine Dauerausstellung über Johann Wolfgang von Goethe. Auf jeder seiner drei Schweizer Reisen 1775, 1779 und 1797 erklomm der Dichterfürst den Gotthard, stieg aber nie hinunter ins Tessin. Als «erster Gotthard-Influencer» sorgte er für internationale Bekanntheit der alpinen Region. Ein Themenweg «mit Goethe am Gotthard» wird demnächst von Andermatt auf den Gotthardpass führen. Offiziell eingeweiht werden soll er am 24. August in Hospental.

Dass Goethe der Schweiz auch zu einem starken Element der nationalen Identität verhalf, ist weniger bekannt: Er schnappte auf einer seiner Reisen die Legende von Tell, Gessler und dem Apfelschuss auf, machte sich ausgiebig Notizen und wollte sie literarisch verarbeiten. Aus Zeitmangel übergab er das Material seinem Freund Friedrich von Schiller.

Schiller verfasste das Drama «Wilhelm Tell», das 1804 in Weimar unter Goethes Regie uraufgeführt wurde. Zusätzlichen Schub erhielt die Tell-Sage durch den italienischen Komponisten Gioachino Rossini. Seine Oper «Guillaume Tell» wurde 1829 in Paris erstmals aufgeführt; ihre Ouvertüre wurde zum klassischen Gassenhauer.

Chillen in der Kristallkaverne

Wunderkammer und Kristallkaverne sind zwei weitere Höhepunkte auf dem Rundgang durch die Stollen. Vor allem die 12 mal 30 Meter grosse und acht Meter hohe Kristallkaverne hat es in sich. Einst war hier ein zweistöckiges Notspital mit 40 Betten, einem Operationssaal und einer Zahnarztpraxis in den Berg gebaut. Heute dient es als Raum für Veranstaltungen.

Die in den Fels gebaute Kristallkaverne ist heute Schauplatz diverser Veranstaltungen wie beispielsweise Konzerte.

So sprach vor einigen Tagen Bundespräsidentin Viola Amherd hier zu rund 200 Schweizer Botschaftern, die sich in Andermatt zum Botschaftertreffen eingefunden hatten. Am 1. Juni trat ein Jodlerklub zu Saisoneröffnung auf. Es fanden schon unterirdische Modeschauen, Alphorn- und Jazz-Konzerte statt. Sogar heiraten kann man hier: Der Gemeindepräsident von Airolo führt mitten im Berg standesamtliche Trauungen durch.

Nebenan stehen in einer eigenen Kaverne zwei Dieselgeneratoren der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik Winterthur. Sie sollten im Fall einer Elektrizitätspanne Notstrom produzieren. Denn die Idee der Festung war, dass hier 400 Mann sechs Monate lang hätten ausharren können, versorgt mit Wasser, Strom, Frischluft und Lebensmittelkonserven. Heute ist man froh, wenn man der kalten und feuchten Kaverne nach ein paar spannenden Stunden wieder entkommt.

Weitere Informationen

Der Sasso San Gottardo ist vom 1. Juni bis 13. Oktober geöffnet, jeweils ab 10 Uhr. Letzter Eintritt um 15 Uhr. Für grössere Gruppen werden auch Führungen ausserhalb der Öffnungszeiten organisiert.

Ein kleiner Rundgang kostet 20 Fr. für Erwachsene; für Kinder bis und mit 15 Jahren ist er gratis. Der grosse Rundgang mit Stollen-Seilbahn und historischer Festung: 25 Fr.; für Kinder gratis.

Ein geführter Rundgang von 2 bis 2,5 Stunden: 35 Fr., für Kinder 20 Fr. Die Abenteuerführung inkl. Abstecher in einen stillgelegten Teil der Festung von 2,5 bis 3 Std.: 45 Fr., für Kinder 30 Fr. Die Festungswächter-Tour von ca. 4 Std. inkl. Besichtigung eines sonst nicht zugänglichen Sektors und der getarnten Aussenverteidigungsanlagen: 55 Fr., Kinder 40 Fr.

Weitere Informationen sind auf der Webseite zu finden.