Ferienland Schweiz

Im Wasser sind alle gleich: Die Therme bietet einen tollen Ausblick. Alle Bilder: MyLeukerbadAG

Ein Loblied auf Leukerbad 

Christian Berzins

In drei Tagen lernt unser Autor den Walliser Ferienort Leukerbad kennen – und wegen seiner Durchschnittlichkeit lieben.

Wenn nach Ferien in einem berühmten Bäderdorf eine Cremeschnitte in Erinnerung bleibt, ist etwas schief gelaufen. Wer so denkt, war noch nie in Leukerbad. Dieser Ort kennt keine Höhepunkte, ist aber dank breiter Cremeschnitten-Durchschnittlichkeit so urschweizerisch, dass ihn Schweizer und Schweizerinnen bestens kennen. Und lieben.

«Sie waren sicher schon hier», sagt denn auch der Produktmanager von «My Leukerbad» (eine Organisation, die im Auftrag der Eigentümer fünf touristische Unternehmen Leukerbads führt) in einer weltumarmenden Selbstverständlichkeit und fügt – mitten im Dorf stehend – auf den Nebel zeigend an: «Da ist die Gemmiwand – eindrücklich». Ich war noch nie «hier» und sehe nichts ausser einer unendlichen Nebelwand, wie sie auch am Hallwilersee zu bewundern ist. Ich glaube dem Mann kein Wort – und das liegt nicht daran, dass er Marco Walker heisst und einst Trainer des FC Sion war.

Als am nächsten Morgen der Nebel aufreisst, glaube ich allerdings meinen Augen kaum: eine Felswand so gross wie die Rigi, so imposant wie eine sizilianische Kathedrale. Es ist leider ein kurzes Schauspiel, rasch kommen der Schnee und der Nebel zurück, was aber niemanden stört.

Wie in der ehemaligen Sowjetunion

Beruhigend wirkt auch, dass mitten im 1411 Meter über Meer liegenden Dorf das sogenannte «Volksheilhaus» steht. Leukerbad macht offenbar jeden und jede gesund. Die Anschrift erinnert an Bauten in der ehemaligen Sowjetunion, wo man nicht nur alles gleich zu machen versuchte, sondern auch alle gleich gesund waren.

In Leukerbad ist nicht alles gleich, aber niemand scheint nach dem im Schuldenmeer endenden Grössenwahn der 1980er-Jahre bevorteilt zu sein. Das Grossartige an diesem Dorf ist heute seine Anspruchslosigkeit: Hier muss man nicht unbedingt ein Kirchner- oder ein Nietzsche-Museum besuchen, hierhin locken keine Spitzenköche oder architektonischen Ungeheuerlichkeiten. Dieser Ort versinkt in der guten, alten Zeit, in den 1980er-Jahren, als die Betten der Hotels und Ferienwohnungen voll besetzt waren, viele Gäste den Aufenthalt von ihrer Krankenversicherung bezahlt erhielten. Diese Weltferne macht den Ort «gmögig», geradezu zum Ideal für Familien.

Wer am Morgen in den Frühstückssaal des Hotels tritt, begrüsst das Rund mit einem gut hörbaren «Grüezi mitenand».

Beim Walliser Abend im Hotel Alfa fällt mir das Motto der Agentur ein, die uns nach Leukerbad eingeladen hat: «Digital Detox». Ich lächle. Die meisten Gäste benutzen das Handy so traditionell wie einst das Festnetztelefon – umso besser können sie sich unterhalten und zu den vom Handörgeli angestimmten Liedern mitsingen.

Wer am Morgen danach in den Frühstückssaal des Hotels tritt, begrüsst das Rund mit einem gut hörbaren «Grüezi mitenand». Um 9.15 Uhr ist man das Büffet-Schlusslicht, macht den «Brosmetöff». Trotz des starken Schneefalls und der dunklen Wolken ist man rundum zufrieden: «Wir fahren heute auf die Gemmi, egal, ob man etwas sieht oder nicht: Ein Käfeli oder ein Gläsli Wein wird’s schon geben!», hallt es vom Nebentisch. Wo es danach hingeht, ist klar. Ob Biker, Skifahrer, Eisläufer, Wanderer oder Kletterer, Alt oder Jung, alle haben einen gemeinsamen, körperwarmen Rückzugsort, der das Dorf einst so berühmt gemacht hat: warmes Wasser in den Thermen. Prahlte man einst mit der Heilkraft des Wassers, ist es nun das Mittel zur Entschleunigung.

Zentrum der Verlangsamung ist das riesige Thermalbad, das erst überläuft, wenn alle Betten im Dorf voll sind, kein Schnee liegt und der Dauerregen einsetzt. Etwa in den Weihnachtstagen 2022. Zwei Wochen später aber spaziert man um 10 Uhr problemlos rein, hat selbst in den engen Unisex-Umkleideräumen Platz und lässt sich alsbald vom Innen- in den Aussenbereich spülen. Im grossen Innenbecken wird geturnt, im Babybecken daneben geplanscht, das Sportbecken im 3. Stock ist leer.

In den 1980er-Jahren wollte Leukerbad modern, spektakulär und nicht zeitlos bescheiden sein.

Sollte Ihnen jemand erzählen, die Thermen seien hässlich, stimmt das nicht. Das Problem war, dass man in den 1980er-Jahren in Leukerbad modern, spektakulär und nicht zeitlos bescheiden sein wollte, deswegen sieht das Bad heute alt aus. Aber es kommt auf die inneren Werte an, und die sind herabgekühlte 35 beziehungsweise 36 Grad warm. 51 Grad warm sprudelt das gesunde Wasser aus dem Felsen. Gebadet werden kann auch anderswo, etwa in der «Walliser Alpentherme & SPA» und «Therme 51». Klein, aber schön.

Die Anspruchslosigkeit zieht sich weit ins Dorf hinein. Da hängen Pullover mit 50 Prozent Rabatt, die wohl nicht bloss im letzten, sondern auch im vorvorletzten Ausverkauf an derselben Stange hingen. Sie wirken beruhigend: Keiner wird in Leukerbad so wie in Gstaad oder Bad Ragaz das Gefühl kriegen, dass der eigene Pulli alt sei und man dringend einen neuen brauche.

«Ds Wallis isch hibsch, gälltet?»

So spaziert man denn weiter hoch, den schmucken Holzhäusern entlang zur Galerie Sankt Laurent, einem historischen Gebäude, wo einst gebadet wurde. Hier wechseln sich monatlich temporäre Ausstellungen ab, und jeden Montag um 17 Uhr können Weine aus Varen, dem Nachbardorf unten im Tal von Leuk, degustiert werden.

Statt um 20 Uhr kommen wir um 19 Uhr in den «Sternen» und ernten ein grosses «Hallo!»: Wäre es Freitag oder Samstag, sagt man uns, müssten wir auf einen freien Tisch warten, nun aber sei einer da – und alsbald alles rundum besetzt. Warum, ist ein Rätsel.

Bald wird Hochdeutsch, Englisch und Italienisch gesprochen, ein Walliser, der schon mehr als eine Degustation hinter sich hat, begrüsst die Gemeinschaft strahlend – und posaunt heraus, was wir schon lange denken: «Ds Wallis isch hibsch, gälltet?» An der Bar sitzen Gestalten, die locker eine Hauptrolle in der TV-Serie «Tschugger» erhalten würden: Man weiss nicht, ist’s der Gemeindeammann oder der Abwart der Sportanlage. Vielleicht gar der Fussballpräsident. Dass die Leukerbad-Erinnerungen des Schriftstellers James Baldwin «Stranger in the Village» («Fremder im Dorf») heissen, überrascht nicht.

Die teuerste Flasche Wein kostet im «Sternen» 47 Franken. Es gibt Fondue in allerlei Variationen und Raclette à discrétion. Das Essen ist so unspektakulär wie die Papierunterlage auf dem Holztisch, aber es erfüllt alle Erwartungen. Durch den Neuschnee stapfen wir um 21 Uhr heimwärts, alles scheint zu schlafen. Am nächsten Tag nach dem Frühstück haben Leukerbads Heinzelmännchen den Schnee generalstabsmässig beseitigt – inklusive jenen auf den Hotelparkplätzen. Aber wie ist es auf dem berühmten Römerweg, unserem Tagesziel?

Der Glaube an den Katholizismus wird bestärkt

Nach dem Sportzentrum kommt man wie von alleine auf den romantischen Spazierweg, der zur Rechten ganz bestimmt hinter der Nebelwand von einer gewaltigen Bergwand abgegrenzt ist. Nach dreissig Minuten taucht links eine herzallerliebste Kapelle auf, die dem Heiligen Antonius zu Ehren gebaut wurde. Da wir zu Hause gerade verzweifelt auf Hausschlüsselsuche sind, geht’s hinein, ein Stossgebet ist gesprochen, die Kerze angezündet – der Heilige akzeptiert Gott sei Dank auch Twint. Und siehe da: Kaum zu Hause, wird der Schlüssel entdeckt. Katholizismus ist doch die beste aller möglichen Glaubensformen.

Leukerbad erblüht.

Im Tal hinten gibt’s eine Überraschung: ein Restaurant, bei dem vom alkoholfreien Aperitif über die famosen Walliser Spezialitäten bis zur Raritäten-Weinliste alles stimmt. Wer im «Bodmenstübli» richtigerweise auf die «Urchigi Choscht» setzt, sollte die Walliser Brotsuppe im Voraus mit dem Gegenüber teilen, sonst muss man zweimal nach Leukerbad, um die Kalorien wieder abzubauen und den nächsten Hunger zu haben. Irgendwann nämlich braucht’s noch Platz für die Cremeschnitte im «Tannuheim».