Ferienland Schweiz
Auf der Schiene durch Schluchten und Täler
Silvia SchaubDer Kellner im Sennenchutteli balanciert das Tablett mit den Kaffeebechern wie ein Artist durch das schwankende Abteil. Schafft er es oder nicht? Natürlich schafft er es – ohne nur einen einzigen Tropfen zu verschütten. Schliesslich ist er sich solchen «Wellengang» gewohnt. Nur: Diese Kreuzfahrt findet nicht auf dem Meer statt, sondern auf den Schienen der Rhätischen Bahn. Gerade nimmt der Zug die nächste Kurve und verschwindet bei Punt Ota oberhalb von Bergün im nächsten Tunnel. Fast eine Doppel-Acht fährt er, sodass man bald nicht mehr weiss, auf welcher Seite des Albulatals man sich befindet. Die Live-Cam vom Führerstand der Lok bringt richtig Action ins Abteil.
Mit der «kleinen Roten», wie die RhB auch genannt wird, klettern wir über 1000 Höhenmeter von Thusis Richtung St. Moritz auf der berühmten UNESCO Welterbe-Strecke hoch. Diese ist mit ihren 196 Brücken und 55 Tunnels das Herzstück der Alpine Cruise, die die Rhätische Bahn seit letztem Jahr als Schienenkreuzfahrt anbietet. Statt auf hoher See bewegt man sich auf den höchsten Bahngeleisen Europas. Statt von Wasser umgeben, befindet man sich in einer atemberaubenden Naturkulisse und bestaunt Meisterwerke der Ingenieurskunst. Die spektakulären Ausblicke aus dem Zugfenster sind das Bordprogramm, und auch die Landgänge bieten unzählige Höhepunkte. «Wir möchten mit diesem Angebot zeigen, wie vielfältig das Bündnerland ist», erklärt Ladina Schwarz, Marktverantwortliche Schweiz bei der RhB. «Und alles ist bequem mit den Zügen der RhB erreichbar.» Im Vergleich zu einer normalen Kreuzfahrt definitiv mit der besseren Öko-Bilanz.
Die Anreise erfolgte tags zuvor nach Chur, dem Ausgangshafen der Alpine Cruise. Die älteste Stadt der Schweiz lockt mit einer malerischen, intakten Altstadt. Wer den roten Hinweisschildern folgt, entdeckt immer wieder schöne Sehenswürdigkeiten, Plätze und Gässchen mit hübschen Läden wie die Cramerei oder den Teeladen. Über der Altstadt thront der Bischöfliche Hof mit seiner 800 Jahre alten Kathedrale. In der Kirche St. Martin beeindrucken die Glasfenster von Augusto Giacometti. Ein Blickfang ist auch das Kunstmuseum in der historischen Villa Planta mit seinem monumentalen Erweiterungsbau von Barozzi Veiga.
Was für ein Licht, was für eine Weite!
Inzwischen hat uns die Alpine Cruise hinauf nach Preda gebracht. Dort beeindrucken die riesigen Förderbänder in der Landschaft. Schön sieht das nicht aus. Aber sie sind nun mal notwendig für den Ausbau des neuen Albulatunnels, der 2024 in Betrieb gehen soll. Die 1903 erbaute alte Röhre wird dann zum Sicherheitstunnel. Und schon sind wir auf der anderen Seite des 5865 Meter langen Albulatunnels, der mit einem Scheitelpunkt auf 1823 Metern über Meer der zweithöchst gelegene Tunnel der Alpen ist. Was für ein Licht, was für eine Weite! Immer wieder ein schöner Anblick, dieses Engadin!
Auf der Bernina-Linie geht es von Samedan direkt weiter Richtung Poschiavo. Bei der berühmten Montebello-Kurve schauen alle Augen gebannt auf den Morteratsch-Gletscher. Ein paar hundert Höhenmeter weiter oben beim Lago Bianco kommt das Meer doch noch ins Spiel. Hier befindet sich die Wasserscheide – ostwärts fliesst das Wasser ins Schwarze Meer, südwärts in die Adria. Im Zickzack-Kurs geht es nun talwärts in die Valposchiavo, wo mehr als 1000 Höhenmeter weiter unten ein südliches Ambiente herrscht. Auf der Piazza Communale setzen wir uns vor das Hotel Albrici und stärken uns mit einem Espresso für die Rückfahrt nach St. Moritz, unserem nächsten Übernachtungsort.
Das Gepäck wartet schon auf uns im Hotel Laudinella. Das Package der Schienenkreuzfahrt beinhaltet nämlich nicht nur das Bahnticket und die Übernachtungen für die ganze Reise, sondern auch den Gepäcktransport von Hotel zu Hotel. Was diese Kreuzfahrt auch bietet: Man kann aussteigen und weitere Sehenswürdigkeiten anschauen oder Aktivitäten unternehmen, wo man will.
So legen wir am nächsten Tag auf unserer Fahrt von St. Moritz nach Davos in Filisur spontan eine Pause ein. Schon immer wollten wir einmal die Wanderung zum Landwasser-Viadukt unter die Füsse nehmen. Erst geht’s vom Bahnhof ein Stück durch den Wald, bevor der Weg entlang der Landwasser zum Fuss des Viadukts führt. Beeindruckend sind die langen Beine dieses 136 Meter langen und 65 Meter hohen Bauwerks! Und wusch, ist das rote Bähnli auch schon darüber hinweggedonnert.
Zurück in Filisur erwartet uns ein weiteres Highlight: die Fahrt im historischen Zug mit brauner Lok und grünen Wagen aus den 1930er Jahren nach Davos Platz. Dieser Zug fährt in der Sommersaison zweimal täglich in beide Richtungen. Der Zug schlängelt sich durchs Landwassertal, bevor er bei Wiesen über den Viadukt und dann durch die Zügenschlucht fährt. Schon bald haben wir unsere letzte Station in Davos erreicht. Solch eine Reise macht müde. Also halten wir es wie Thomas Mann und suchen Erholung auf der Schatzalp. Auf der Sonnenterrasse kommt nochmals Kreuzfahrt-Feeling auf. Es fühlt sich an wie auf dem Deck eines Schiffs.